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Interview mit Sr. Igna Kramp CJ

"Es scheint mir auch für heute eine spannende Perspektive, sich das Leben Jesu 'by heart' anzueignen." Sr. Igna Kramp CJ spricht über ihr neues Buch zur Bedeutung der Bibellektüre in den Exerzitien

Liebe Sr. Igna, Sie haben sich in Ihrem neuen Buch mit der biblischen Hermeneutik der Exerzitien befasst. Sie gehen der Frage nach, welche Rolle die Betrachtung der Geheimnisse des Lebens Jesu innerhalb der Exerzitien spielt. Was hat Sie zu dieser Auseinandersetzung angeregt?

Ich habe bei den Jesuiten in der Schweiz den Lehrgang „Exerzitien und Geistliche Begleitung“ mit Masterabschluss an der Universität Fribourg absolviert. Beim ersten Kurswochenende fragte ich, ob es denn keine umfassende Studie zur Bibel in den Exerzitien gebe. Als Neutestamentlerin war ich ziemlich erschüttert darüber, dass die Antwort „Nein“ lautete. Daraufhin sagte ich: „Dann schreibe ich eben dieses Buch als Masterarbeit.“ Das war in diesem Moment eine recht vollmundige Aussage. Aber so ist es dann tatsächlich gekommen.

Gemeinhin ist Bibellektüre nicht das Erste, was man mit ignatianischen Exerzitien in Verbindung bringt. Vielmehr hört man bis heute sogar von einem „Bibelleseverbot“ für Exerzitant*innen. Lässt sich das Ihren Ergebnissen nach noch aufrechterhalten?

Ein „Bibelleseverbot“ habe ich nie erlebt – wohl aber ein Verbot anderer Lektüre. Das hat auch seine sinnvollen Seiten. Man soll ja in Exerzitien betend vorangehen, sich innerlich bewegen lassen, nicht allerlei lesen.

Historisch war es aber so, dass die Geschehnisse aus dem Leben Jesu nach Betrachtungspunkten meditiert wurden und nach den täglichen Betrachtungen zusätzlich in den Evangelien gelesen wurde. Diese Lektüre konnte auch auf weitere Bücher ausgedehnt werden. Genannt werden im Exerzitienbuch die „Nachfolge Christi“ und die „Legenda aurea“ (EB 100). Diese Lektüre sollte dazu helfen, sich zur Nachfolge Christi bewegen zu lassen.

Ein Leseverbot lässt sich also historisch nicht belegen. Es wurde vielmehr gezielt das Richtige gelesen – Bücher, die zur Nachfolge halfen – und auf richtige Art und Weise, d.h. meditierend, nicht studierend und nicht Wissen ansammelnd (vgl. EB 2).

Eine solche Lektürepraxis könnte auch heute in Exerzitien sinnvoll sein. Sie hätte den Vorteil, dass auch längere Abschnitte der Bibel, nicht zuletzt des Alten Testaments, in der intensiven Zeit von Exerzitien einen angemessenen Platz fänden. Einer der ersten Leser meines Buches hat mir zudem rückgemeldet, dass manche Leute mit der vielen Zeit in Exerzitien nicht gut umgehen können und er den Eindruck hat, dass für sie eine geordnete Lektüre eher hilfreich wäre.

Was haben Sie in der Auseinandersetzung mit dem Umgang der ersten Jesuiten mit der Bibel noch herausgefunden?

Eine wichtige Entdeckung war die mnemotechnische Dimension der Betrachtungspunkte. Die Ereignisse des Lebens Jesu wurden auch deswegen in drei Punkten zur Meditation zusammengefasst, damit der oder die Exerzitant*in diese auswendig und damit inwendig kennenlernte. Das zeigte sich beispielsweise darin, dass vor jeder neuen Betrachtung nochmals alle vorigen kurz durchgegangen werden sollten (EB 130). Sie wurden gleichsam ins Herz genommen, und nach den Exerzitien, die damals nur einmal im Leben gemacht wurden, weiter ergänzt.

Peter Faber hat nach eigenen Aussagen jeden Tag mit diesen „Geheimnissen“ des Lebens Jesu gebetet. Jerónimo Nadal war in seinem eigenen Beten humanistischer, textbezogener. Aber er hat für andere umfangreiche Meditationshilfen zur Betrachtung der „Geheimnisse“ des Lebens Jesu herausgebracht, beispielsweise einen „Rosenkranz des Lebens Jesu“ und eine Sammlung von 153 Kupferstichen mit Meditationspunkten zum Leben Jesu.

Können Sie daraus Anregungen oder Empfehlungen für Exerzitienbegleiter*innen heute ableiten?

Es scheint mir auch für heute eine spannende Perspektive, sich das Leben Jesu „by heart“ anzueignen. Dazu sollte man natürlich die Evangelien heranziehen, keine Betrachtungspunkte. Aber sich vor jeder neuen Betrachtung noch einmal kurz den bis dahin betrachteten Teil des Lebens Jesu ins Gedächtnis zu ziehen und so zu verinnerlichen (EB 130), halte ich für eine sehr gute Idee.

Anders als damals haben wir allerdings nicht einfach „die Geschichte“ des Lebens Jesu, sondern die Geschichte Jesu, wie sie jeweils in einem der vier Evangelien erzählt wird. Da würde ich als Exegetin raten, jeweils bei einem Evangelium zu bleiben und sich auf dessen dramatischen Erzählbogen einzulassen.

Eine weitere wichtige Erkenntnis liegt für mich auch darin, dass die Vertrautheit mit Christus, in welche die 30-tägigen Exerzitien führen, zwar die Mitte ignatianischen Betens darstellt, aber nicht an sich schon alles ist. Sie sollte sich nach den Exerzitien aus den Evangelien und der ganzen Heiligen Schrift ergänzen und vertiefen.

Es ist gut, dass wir heute immer wieder Exerzitien machen. Solche Intensivzeiten sind notwendig, vielleicht in unseren hektischen und global vernetzten Zeiten noch viel mehr als früher. Aber diese Praxis sollte nicht dahin führen, dass wir immer wieder dieselben Texte meditieren. Denn wie der Kirchenvater Hieronymus sagt: „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen“. Wenn wir immer nur ausgewählte Evangelientexte meditieren, müssen wir uns angesichts dessen fragen: Welchen Christus kennen wir? Die frühen Jesuiten waren von einem biblischen Humanismus beseelt. Ich fände wünschenswert, daran auch heute Maß zu nehmen.

Der heilige Ignatius mit seinen „geistlichen Übungen“ ja vor allem für geistliche Entscheidungshilfen bekannt. Kann die Bibelmeditation und -lektüre in den Exerzitien Menschen demnach auch beim Treffen wichtiger Entscheidungen unterstützen?

In den 30-tägigen Exerzitien ist der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung – ursprünglich die Suche nach der göttlichen Berufung und der Wahl des Lebensstandes – zutiefst mit der Meditation des Lebens Jesu verknüpft. Das Leben Jesu ist Anfang, Mitte und Ziel jeder christlichen Berufung. Deshalb lässt Ignatius den Exerzitianten vor dem Wahlprozess erst einmal fünf Tage lang schauen, wie Jesus geboren wurde und gelebt hat – erst „im Stand der Gebote“, als er mit seinen Eltern in Nazareth war, und dann „in der Freiheit des Evangeliums“, als er von ihnen weg in den Tempel, das Haus seines Vaters, ging.

Hier sieht Ignatius die beiden großen Lebensstände in der Kirche vorgebildet, das Leben unter den Gelübden und das Eheleben. Das würden wir heute wohl etwas vielfältiger und differenzierter sehen. Der Gedanke, dass in Jesu Leben jedes Leben sein Vorbild findet und an ihm Maß nehmen sollte, ist aber für die christliche Lebenswahl unverzichtbar. Deshalb sollten die „Entscheidungshilfen“ des Ignatius nicht „säkularisiert“ dargeboten werden. Es geht in ihnen darum, den Willen Gottes für das eigene Leben zu entdecken, und dazu wird die Nähe des Gottessohnes gesucht, der das Hören auf Gott in vollendeter Form verwirklicht hat.

Bibliografische Hinweise

Igna Marion Kramp CJ:

Begegnung mit den Geheimnissen des Lebens Jesu Christi. Zur biblischen Hermeneutik der Exerzitien
2020, 124 Seiten, kart. Studia Oecumenica Friburgensia 94. ISBN 978-3-402-12235-8. 19,80 EUR

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Viele Menschen, die sich heute als religiös suchend einschätzen, suchen weniger nach geistiger Anregung als nach konkreten spirituellen Erfahrungen. Es klingt, als seien die ignatianischen Exerzitien dafür besonders geeignet. Was kann diese Form des geistlichen Übungswegs Menschen heute geben?

Nadal beschreibt den Sinn der ignatianischen Gebetsform so: „Die Betrachtung und Beschauung des Lebens Jesu Christi im Verspüren des Geistes ersetzen, was die Apostel und Jünger Christi leibhaft geschaut haben“ (Geistliches Tagebuch, 391). Das heißt: Wir können imaginativ und geistgeführt in den Exerzitien mit Jesus sein, wie die Jünger in biblischen Zeiten. Wir können ihn hören, sehen, berühren, riechen, schmecken. So wird das fleischgewordene Wort auch in unserer Erfahrung wirklich Fleisch. Das ist generell wichtig, weil wir Menschen sind, und das Sakramentale durch den Leib geht.

In heutigen Zeiten, da der Erfahrung eine hohe Legitimationskraft zugemessen wird, ist es wahrscheinlich besonders wichtig. Ein Glaube, der in meinem Leben keine Auswirkungen hat, sondern nur ein geistiges Prinzip darstellt, hat heute keine Plausibilität mehr. Das ist erst einmal berechtigt. Es hat aber auch seine Grenzen, weil Gott mehr ist, als was wir von ihm erfahren.

Die Exerzitien führen in eine erfahrbare Nähe Christi. Im besten Fall führen sie aber auch in dem Sinne wieder darüber hinaus, dass diese Nähe auch dann real und wahr ist, wenn ich gerade nichts davon verspüre.

Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Sr. Igna!