Der Fülle auf den Grund gehen. Herbstgedanken

Ich liebe den Herbst als Jahreszeit. Von allen Monaten ist er am buntesten: Dunkelgrün mischt sich mit Hellgelb und die Blätter zeigen alle Schattierungen über Orange bis hin zu Dunkelrot. Wenn im Sommer der Himmel in allen
Farben leuchtet, dann leuchtet im Herbst der Wald. Dazwischen kommen erste graue Nebelschwaden, auf Wiesen sieht man nur den Rücken und Kopf der Kühe oder Schafe.

Der Herbst ist geheimnisvoll, die Natur signalisiert ihren Rückzug. Und gleichzeitig ist es der Monat der Fülle, der Früchte. Beim Erntedank werden überbordende Altäre aufgebaut – was für mich als reines Stadtgewächs jedes Mal faszinierend ist. Neben den bunten Äpfeln liegt der duftende Schinken, dazu kommen grüne und blaue  Weintrauben, der große runde Kürbis und verschiedene gelbe Getreideähren, krustiges Brot … Hmmmm!

Sinnenfreude leben

Fülle kennt und liebt auch die Kirche. Barocke Bauten in Städten wie etwa Rom, dem Zentrum, zeugen von der Freude an Farben und Material, von der Anpassung an neue Zeiten und ihrer eigenen Interpretation oder vom Festhalten an der Tradition. Puttenengel stehen neben dem Marterkreuz, goldene Decken hängen über der Armenkasse, bunte Fenster werfen Lichtspiele auf edel geschnitzte Altäre, dazwischen weht der Weihrauch.

Katholisch-Sein ist etwas sehr Sinnfreudiges, finden Sie nicht? Ich kann das, wie Sie lesen, auch sehr genießen. Und gleichzeitig steht hinter der Fülle eine andere, spannende Frage, die den Blickwinkel ändert: Wo kommt die Fülle her? Was ist der Boden, das Fundament?

Eine Stadt wie das katholische Rom ist, so sagt es das Evangelium, nicht einfach auf Steinen gebaut. Ihr Fundament sind Menschen: Jüngerinnen und Jünger, immer wieder pointiert dargestellt in einzelnen Berufungen. Und die Berufungen sind – das ist das Erstaunliche – keine Heldensagen. Petrus ist ein einfacher Mensch, einer, der Jesus verleugnet, der zweifelt, immer wieder. Aber er wird als Fundament bezeichnet. Und so ist das auch mit den Gaben
an Erntedank – da kommt es auf den Boden an. Wo kann welche Frucht, welches Getreide gut gedeihen? Und manchmal sind es gerade die eher schwierigen Böden, die für den besonderen Geschmack oder die besondere Form der Frucht sorgen.

Was ist unser Fundament? Worin wurzeln wir? Auf welchem Felsen stehen wir? In unserem Jugendcafé in Hannover
lassen wir die Jugendlichen im Rahmen der Firmvorbereitung einen Werte-Cocktail mixen: Aus zehn Werten dürfen sie fünf Werte, repräsentiert durch bunten Sand, in einem Reagenzglas zusammenstellen: Liebe, Zeit, Freunde, Gesundheit, Geld, Familie, Glaube, Frieden, Vertrauen und Toleranz.

Wie ist das mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser: Was ist für Sie "fundamental"? Auf welchem Glauben oder welchen Personen baut sich Ihr Leben auf? Meine Erfahrung, wenn ich das als Katechetin mitmache, ist: Es  wechselt. Je nachdem, wie gestresst oder gesund ich gerade bin, ist Zeit wichtig, mal Gesundheit, wenn ich beim
Zahnarzt war, auch Geld, oft und wechselnd Vertrauen, Liebe oder Toleranz; Glaube ist meist (aber als dünne Schicht) dabei.

Die Verwurzelung

Dieser Blick auf den Boden, aufs Fundament ändert die Perspektive. In den Früchten sehen wir die Fülle, den Überschuss. Das, worauf wir stolz sind, wo wir unseren Namen lesen, wo wir etwas geleistet haben. Der Blick auf die Wurzeln, den Boden, führt zu unserer Bedürftigkeit, zu den anderen Menschen, auf die wir angewiesen sind. Es geht nicht um die Frage, wie groß die Frucht, unsere Leistung ist, sondern entscheidend ist, wie tief die Wurzeln
sind, unser Vertrauen ist.

Vom Jesuiten Peter Faber († 1546) gibt es ein wunderbares Bild: "Bisher hast du mehr Trost an der Größe des aus Gottes Gnade wachsenden Baumes gefunden als in seiner Wurzel. Du hast auf das Laubwerk geschaut, auf die Blätter, die Blüten und die Früchte. Darin gibt es viel Veränderung, weil sie noch wachsen – aber sie können keinen Trost und Bestand von Dauer bieten, wie die Wurzel es tut. Suche darum die Wurzel des Baumes nicht um ihre
Früchte willen, suche vielmehr die Früchte und alles andere um der Wurzel willen! … Nicht die Frucht wird dich zur Herrlichkeit führen, sondern die Wurzel. … Und so kehrt der Baum sich: Die Wurzel wird zuoberst liegen, sie lässt alle Früchte herunterhängen und flößt ihnen ihre Wurzelkraft von oben ein."

Am Ende dreht der Baum sich um vor Gott! Am Ende wird nicht die Frage stehen, was ich geleistet habe, sondern wie tief ich verwurzelt war, wie sehr ich geglaubt und geliebt habe, für welche Menschen ich dankbar sein kann.
Das gilt auch für die Kirche: Der Maßstab am Schluss werden nicht die großen Bauten sein, die perfekten Angebote und Konzepte. Am Ende wird es um all die vielen Gläubigen gehen, die gebetet, gefeiert, sich gestritten und versöhnt haben. Nicht die Bischofs-Mitra, die Spendensumme oder die Zahl der erhaltenen Sakramente werden
entscheiden, sondern das Stoßgebet am Kinderwagen, das Handhalten am Krankenbett, das Verständnis im Mitarbeitergespräch oder das Lachen mit den Jugendlichen.

Sr. Birgit Stollhoff CJ

Vielen Dank an die Katholische Sonntagszeitung für die Möglichkeit, den Text hier zu übernehmen.