Prophetie, Politik und Expertise: Von Sr. Birgit Stollhoff CJ

Abbildung des Propheten Elias
© Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Die Menschen in der Öffentlichkeit und im Wissenschaftsbetrieb bleiben Pilgernde, schreibt Sr. Birgit in der Katholischen SonntagsZeitung. Vielen Dank, dass wir diesen Text übernehmen können. 

Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!“ (Num 11,29; siehe Seite 10). In Zeiten des Wahlkampfs klingt diese Lesung aus
dem Alten Testament fast lächerlich. Es laufen so viele Propheten und Prophetinnen herum, so viele Versprechungen, Weltlösungen und Zukunftsszenarien werden ausgemalt. Sind Politiker Propheten, Politikerinnen Prophetinnen? Oder sind sie nur kluge Anwender von Öffentlichkeitsarbeit?

Das Wissenschaftliche Bibellexikon definiert Prophetie und Propheten im Alten Testament folgendermaßen: "Unter einem ‚Propheten‘ versteht man eine Person, die Botschaften einer Gottheit an eine dritte Partei vermittelt, ohne dass diese dritte Partei selbst in der Lage wäre, diese göttliche Botschaft zu vernehmen. Um die Aufgabe eines Propheten übernehmen zu können, benötigt die betreffende Person erstens eine spezielle psychische Disposition für paranormale religiöse Erfahrungen, wie sie erfahrungsgemäß nur wenigen Menschen gegeben
ist, sie muss zweitens Einsichten gewinnen, von deren göttlicher Herkunft sie völlig überzeugt ist, und sie muss drittens spüren, dass sie von der Gottheit beauftragt ist, die empfangene Botschaft dem Adressaten auszurichten."

Das griechische Wort „Prophet“ betont eher die Vollmacht, mit der eine Person etwas im Namen Gottes sagt. Bezogen auf die Politiker passt das also eindeutig nicht – zumindest tritt von ihnen niemand mit diesem Anspruch einer paranormalen Erfahrung auf. Gottseidank!

Generell hat das Wort aber viele weitere Aspekte – den der Voraussicht, der Uneigennützigkeit und der Berufung etwa. Gerade bei diesen letzten Aspekten kann man durchaus in abgeleiteter Weise an Politiker beiderlei Geschlechts denken: Alle, auch diejenigen, die keinerlei Beziehung zu einem Glauben oder einer Religion haben, machen ihren Job hoffentlich aus Überzeugung und mit Leidenschaft und im Wissen, hier Macht für die gesamte Bevölkerung auszuüben.

Gleichwohl müssen sie „sich verkaufen“, ihre Meinung gut und vor allem besser als die Mitbewerber an die Bürger vermitteln.

Mir hat ein Mitarbeiter im Bundestag einmal gesagt, dass es schwierig ist, Politik zu machen und Entscheidungen zu treffen, wenn man weiß, dass man in vier Jahren oder kürzer dafür wiedergewählt werden will. Das ist viel Druck für einen kurzen Zeitraum.

Deutlich wird, wie herausfordernd bis fast unmöglich es ist, da langfristige Entscheidungen mit einer langen Anlauf- und Experimentierphase gut zu treffen. Und wie ist das überhaupt mit der Vielzahl der Meinungen, damit, dass sich alle Politiker sowie
Experten widersprechen – mit besten Sachargumenten?

Gerade in der Corona-Zeit wurde das den Wissenschaftlern ja vorgeworfen. Dass sie ständig die Meinung ändern, neue Kennzahlen nennen, andere Empfehlungen aussprechen. Ein falscher
Vorwurf, weil die Wissenschaftler da genau richtig gehandelt haben, nämlich gerade nicht prophetisch, sondern forschend, empirisch.

Und es ist Kernelement einer Forschung und wissenschaftlichen Tuns, mit Thesen zu arbeiten und diese anhand neuer Forschungsergebnisse ständig weiterzuentwickeln. Eine Wissenschaftlerin, die heute das Gegenteil von gestern behauptet, handelt genau richtig, wenn sie heute eine andere Datenlage hat als gestern. Die vielen Unklarheiten zu Corona bedeuten nur, dass Wissenschaftler Pilgernde sind, nicht Propheten.

Schwierig ist es dann für diejenigen, die den aktuellen Forschungsstand mit politischen
Überzeugungen und Visionen in Verbindung bringen müssen. Das bleibt wackelig.

Wer sind dann die großen Propheten? Gibt es die noch? Für mich schon. Ein Prophet der neueren Zeit ist für mich etwa der Jesuit Klaus Mertes. Er hat vor über zehn Jahren als Leiter des Canisius-Kollegs etwas gemacht, was inzwischen fast schon ungewöhnlich anmutet: genau hingehört. Er hat auf Andeutungen und Erzählungen von Missbrauch genau gehört, hat nachgefragt, aufgeklärt – und damit einen Aufklärungsprozess eingeleitet, der vielen Opfern endlich Gerechtigkeit ermöglicht. Und auch er hatte einen Preis zu zahlen – es gab Anfeindungen, es gab Diskussionen. Gleichzeitig musste und muss sich die Kirche diesen Vorwürfen stellen.


Das wurde jetzt auch bei der Pressekonferenz in Hildesheim zur neuen Untersuchung zum Missbrauch in diesem Bistum deutlich. Propheten sagen unangenehme Wahrheiten in großer Lauterkeit zu Gott und unabhängig der persönlichen Konsequenzen zum Wohle des Gottesvolkes – so würde ich einen modernen Propheten definieren.

Eine weitere Prophetin ist für mich etwa Greta Thunberg, die Schülerin, die für das Klima streikt,
oder die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die sich für Mädchen und Frauen in Pakistan und jetzt im Nahen Osten einsetzt – vermeintlich kleine Mädchen, deren Stimmen so laut wurden, dass sie die Gesellschaft verändert haben.

Politiker sind dagegen Politik-Betreibende – und deren Versprechen und Visionen beweisen sich nach dem Wahlkampf, in der tagespolitischen Arbeit als Minister oder gewählte Abgeordnete. Deren Prophetie ist weltlich, und die Bewährung ist es auch. Und „gerichtet“ werden sie vom Wählervolk, nicht von Gott. Vielleicht die unangenehmere Aufgabe.

Die Menschen in der Öffentlichkeit und im Wissenschaftsbetrieb bleiben Pilgernde Manche TV-Formate inszenieren geradezu den prohetischen Gestus – trotz des „aufgeklärten“ Ambientes.

Text: Sr. Birgitt Stollhoff CJ