„Prüft alles und das Gute behaltet“ - Zum Sonntag

Die Corona-Zeit neigt sich gefühlt – leider nur gefühlt – dem Ende zu. Von der Rückkehr zur alten Normalität war die Rede. Aber was ist die "alte Normalität"?

Zuerst einmal ist es das Alte, das Vergangene: das Kaffeetrinken im Café in der Sonne, die
Besuche im Altenheim. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder in die Schule gegangen sind und alle anderen zur Arbeit. Kleider shoppen im Laden. Die Reise mit der Bahn oder dem Flugzeug. Das war alles vor Corona. Und warum ist es auch "normal"?

Die "alte Normalität"

"Normalität", so definiert es ein Lexikon der Uni Hamburg aus soziologischer Sicht, "ist das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Die Vorstellung von Normalität orientiert sich entweder an einem
Ideal, an einem erwünschten Zustand, am Durchschnitt oder im Einzelfall an der Angemessenheit."

Normalität ist, was die meisten Menschen als selbstverständlich betrachten. Darüber hinaus gibt es aber viele einzelne Lebens- und Verhaltensweisen, die unterschiedlich abweichen. Normal ist also, was die meisten Menschen machen, wie sie leben, wie sie arbeiten. Normal ist, wie die meisten Menschen in der Gesellschaft vor Corona gelebt haben. Normal war dementsprechend auch, dass die Straßen überfüllt waren von Pendlern, dass wir lange Reisen mit großen Emissionen für kurze Besprechungen unternommen haben. Dass jedes Wochenende ein anderes lautes Fressbuden-Fest irgendwo stattgefunden hat.

"Prüft alles und das Gute behaltet" (1 Thess 5,21)

Bevor Corona vorbei ist mit all seinen Einschränkungen, ist es vielleicht sinnvoll, sich die Zeit zu nehmen und einmal zu schauen: Will ich die alte Normalität wieder? Nur, weil es "alle" gemacht
haben? Wir "alle" haben uns gezeigt, dass vieles anders geht.

Es gibt schlimme Einbrüche, wo viel nachzuholen ist: Kinder, die erste Bildungs- und Konzentrationsdefizite aufweisen; ältere Leute, die durch die Einsamkeit stärker abgebaut
haben, Firmeninhaber, die kurz vor der Insolvenz sehen, nicht zuletzt die an der Pandemie Verstorbenen, die wir schmerzlich vermissen.

Es gibt aber auch eine kleine andere Seite von Corona: Plötzlich ist es kein Problem mehr, wenn man auf den Handwerker warten muss, da man mitunter zu Hause arbeiten und die Besprechung via Zoom machen kann. Über den Sommer hat man wunderschöne Ausflugsplätze
entdeckt, direkt vor der Haustür. Statt sich einmal im Jahr mühsam zu treffen, gibt es jetzt einen monatlichen Austausch per Videotelefonie.

Was vermissen Sie?

Was habe ich in der Corona-Zeit nicht vermisst? Wo hat mir vielleicht Corona gezeigt, wie belastend das "alte normale" war? Und was habe ich neu entdeckt? Was aus der Corona-
Zeit will ich mitnehmen – nicht in die "alte Normalität", auch nicht in die "neue Normalität", sondern in meine ganz eigene "neue Realität"?

Das sind Fragen, die man sich jetzt in der Fastenzeit stellen und ehrlich beantworten könnte: Was vermisse ich? Wen vermisse ich? Und was und wen vielleicht nicht?

"Alles wird besser und nie wieder gut", hat die Gruppe Rosenstolz einmal gesungen. Die Zukunft nach Corona wird nicht wieder gut, nicht wieder behaglich – weil sie das vorher auch schon nicht war. Aber für uns, im Gebet und etwa auf Online-Exerzitien oder bei der geistlichen
Begleitung, können wir einüben, aufmerksam auf jeden Tag zu schauen und auf Veränderungen zu achten.

Und dabei geht es nicht darum, was "gut" ist oder "richtig". Sondern es geht darum, was "je besser für mich" oder "je besser für die Gesellschaft" sein kann. Nur so werden Normen und Normalitäten geändert.

Das wirklich Wichtige, das sagt der erste Thessalonicherbrief auch, ist zeitlos und keine Norm, kein Gesetz, sondern das liebevolle Miteinander: "Liebt einander! Dankt! Betet! Kümmert euch umeinander! Vergebt euch!"

Für mich endet dieser Text mit einer der schönsten Zusagen in der Bibel: "Gott, der euch beruft, ist treu. Er wird es tun."

Sr. Birgit Stollhoff CJ

Dieser Text erschien zuerst in der Katholischen Sonntagszeitung in Augsburg. Wir danken für die Möglichkeit, den Text auch hier zu veröffentlichen.

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Reflexionshilfe: Fragebogen von Sr. Birigit Stollhoff CJ