Radikale Solidarität mit rebellischem Ursprung

© ÖOK/Manu Nitsch

Vom 27. bis 30.11. fanden in Wien die "Österreichischen Ordenstage" statt. Mit dabei war auch Sr. Martha Zechmeister CJ. Sr. Martha lebt seit Langem in El Salvador und leitet an der Katholischen Universität von San Salvadort den Studiengang "Teología Latinoamericana"

Ihren Vortrag für die Ordensleute Österreichs hatte sie unter das Leitwort "Wirksames Ordensleben" gestellt. Darin erinnerte sie an den rebellischen Ursprung von Ordensleben und zeigt nachdrücklich auf, was Solidarität mit den Armen heute bedeutet.

Auf vielfache Nachfrage doumentieren wir hier den gesamten Vortrag.

Wirksames Ordensleben

Sr. Martha Zechmeister CJ
 

© ÖOK/Manu Nitsch

Liebe Schwestern und Brüder!

Ich freue mich, dass Sie mich hier zu diesem Heimspiel eingeladen haben, um mit Ihnen zu teilen, was ich in Bezug auf unsere Berufung als Ordenschristen mit Kopf und Herz wahrnehme. Damit sind sie ein großes Risiko eingegangen. Denn ich bin inzwischen alt geworden. In den letzten 45 Jahren habe ich mit aller Intensität die Höhen der Freude des Aufbruchs zu einer neuen, jesuanischeren Form von Kirche und einem Leben nach den evangelischen Räten durchlebt, - aber auch alle Tiefen des Scheiterns an autoritären patriarchalen (und matricharchalen) Strukturen, wie auch schlicht an der Banalität des Faktischen. Dazu kommt, dass die Erfahrungen der letzten Jahre, nicht nur im kirchlichen, sondern auch im profanen und politischen Raum, wahrhaft nicht dazu angetan sind, mich zum leichtfertigen Optimismus zu verführen, um hier große Töne über die Wirksamkeit des Ordenslebens abzusondern.

Angesichts dieser Feststellung und meiner Lebenszeit, die mir davonläuft, drängt sich mir die Alternative auf: Entweder sterbe ich als frustrierte Alte oder als verrückte Revolutionärin. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden. Es ist für mich die Aktualisierung des Rats des hl. Ignatius: Wie wünschte ich in meiner Todesstunde und am „Tage des Gerichts“ entschieden zu haben (EB 183).

In diesem Sinne, erlauben Sie mir jetzt in aller Freimut meine verrückten, revolutionären Ideen und meinen unerschütterlichen, vielleicht naiven, Optimismus zur Wirksamkeit des Ordenslebens (oder redlicher gesagt: zur Wirksamkeit all derer, in welcher Lebensform auch immer, für die dieser Jesus von Nazareth immer noch ihr prägendes „Role Model“ ist). Und ich bitte Sie um dieselbe Freimut, sich das zu nehmen, von dem sie denken, es kann zu mehr Leben führen - und das, was nicht weiterhilft, gelassen liegenzulassen. Um in der kurzen Zeit Wesentliches zu vermitteln, muss ich vieles weglassen und werde zugespitzt und einseitig formulieren. Um die Ausgewogenheit können wir uns in einem zweiten Schritt sorgen. Doch ich möchte es mit Sören Kierkegaard halten: „Wer ein Korrektiv bringen soll,… der sei einseitig, tüchtig einseitig.“[1]

Zurück zum „Role Model“ Jesus; denn er ist die entscheidende, die „kanonische“ Vorgabe, was es bedeutet als Ordenschrist – und als Christ überhaupt – „wirksam“ zu leben. An ihm haben wir es uns abzuschauen und ihm haben wir zu folgen.

1.   Jesuanischer Mut zum Konflikt und Protest

Jesus war ein provokanter Mensch, einer, der Konflikte auslöste. Und zwar deshalb, weil er sich bedingungslos mit den Underdogs und Outcasts seiner Gesellschaft solidarisierte, mit den Opfern der jüdischen Tempelkaste und mit den Opfern des römischen Imperiums. Dafür wurde er schließlich ans Kreuz genagelt. Der Prophet Jesus klagt eine Welt an, die auf dem Altar von religiöser und imperialer Macht Menschenopfer fordert, solidarisiert sich mit diesen und teilt deshalb auch deren Schicksal. Dies ist letztlich der Ausgangspunkt aller Nachfolge; so zu handeln, wie Jesus gehandelt hat und deshalb das Jesusschicksal zu teilen. So hat das Christentum begonnen. Jesus war ein jugendlicher Rebell in einer vergreisten Religion, die ihr lebendiges Herz, die unbedingten Solidarität mit den Marginalisierte und „Entsorgten“ seiner Zeit, in Vorschriften, Äußerlichkeiten und Machthierarchien verloren hatte.

Doch das, was mit Jesus begann und sich in der Kirche der Märtyrer der ersten Jahrhunderte fortsetzte, hat sich mit der Konstantinischen Wende Anfang des 4. Jahrhunderts dramatisch gewandelt. Und genau hier liegen die Ursprünge des Ordensleben: im anarchischen Protest gegen eine Kirche, die gemeinsame Sache mit dem Imperium machte. Die Anachoreten, die ersten Ordenschristen, waren die Männer und Frauen, die sich in die Wüste absetzten - gemeinsam mit den rauen Gesellen, die vor der römischen Justiz und Steuerfahndung flüchteten -, um dort mit ihrer bloßen Existenz, evangelische Radikalität gegen die Verweltlichung der Kirche einzuklagen. Sie waren Aussteiger im ursprünglichen Sinn, haben sich geweigert weiter in der Logik des Systems mitzuspielen und haben wenigstens so versucht, den jesuanischen Ursprung des Christentums wachzuhalten.

Mit diesem oder einem ähnlichem Muster hat jede authentische Ordensgründung begonnen. Wir als Ordenschristen haben also einen „rebellischen Ursprung“. Immer dort, wo Kirche in Gefahr war, sich zu verlieren, zu verweltlichen und nicht mehr den jesuanischen Protest sichtbar zu machen, dort ploppten plötzlich neue Ordensgründungen auf. Ich will uns jetzt nicht in die Depression reden, doch frage ich mich, sind wir heute als Ordensgemeinschaften nicht weithin selbst „vergreist“ – und ich rede jetzt nicht nur von unserem Altersdurchschnitt und den wenigen jungen Mitgliedern. Das System, die „Großkirche“, hat auch alle Anstrengungen unternommen, um uns gründlich zu domestizieren. Wir haben nur mehr sehr wenig von der „Schocktherapie des Heiligen Geistes“ an uns, als die Johann Baptist Metz in den 70-er Jahren die Orden definierte[2]. Wir nennen unsere Konfliktangst „soziale Intelligenz“; und vor allem wir Frauen verwechseln unseren Hang, „brave Töchter“ und „fügsame“, „weibliche“ Personen innerhalb eines patriarchalen Systems sein zu wollen, mit Tugend.

Wo finden wir heute produktive Vorbilder für solchen jesuanischen Protest? Der Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils, zurück zum Ursprung, zurück zum Charisma unserer Gründer und Gründerinnen, war wichtig und notwendig. Doch die Umkehr zum Ursprung darf gewiss kein Zurück in die Vergangenheit bedeuten. Die Frauen und Männer am Ursprung unserer Gemeinschaften haben Großartiges in ihrem historischen Kontext geleistet, haben die Grenzen des als möglich Erachteten durchbrochen. (Verzeihen Sie, dass ich meine Vorbilder aus der eigenen Tradition wähle: Mary Ward brachte die Anschuldigung „diese Frauen wollen sich selbst regieren“ und dass sie ohne Tabus, die Frau als vollwertiges, erwachsenes Subjekt der Verkündigung des Evangeliums erachtete (Maria 2.0 im 17. Jahrhundert) in den Kerker der Inquisition – und dieses oder ein ähnliches Schicksal teilt sie mit vielen anderen Pionierinnen und Pionieren, die neue Formen des Lebens nach den evangelischen Räten in Bewegung setzten. Doch gerade ihr Wagemut zu neuen Ufern aufzubrechen, kann uns ermutigen, uns auch heute beherzt den herausfordernden und unlösbar erscheinenden Fragen unserer Zeit stellen. Sie ermutigen uns, auf den Geist zu vertrauen, sich nicht nur in den Formen der Vergangenheit, der Tradition, gleichsam kristallisiert hat, sondern der uns immer auch neu und überraschend, vielleicht auch erschreckend, vor uns, in der Zukunft erwartet. Der Geist, der uns dazu verführen will, kreativ, gewagt, kühn zu sein.

Beim Versuch dafür einige Linien zu skizzieren, habe ich mich vom Buch einer jungen deutschen feministischen Philosophin, Eva von Redecker, inspirieren lassen: „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“[3]. Zunächst möchte ich mit dieser Autorin fragen, wogegen muss sich denn heute eigentlich unser „jesuanischer“ Protest zu richten? Wo anfangen? Was ist die Kardinalsünde am Grunde dieses Molochs unserer Welt, der auch heute unersättlich auf grausame Weise Menschenopfer fordert? Es geht Ihnen sicher nicht anders als mir, ich wache inzwischen mit der Angst auf, mich den neuesten Nachrichten zu stellen: Eine Horrormeldung überschlägt die andere: Ukraine, Afghanistan, Israel, Gaza. Täglich tausende von unschuldigen, vor allem zivilen Opfern, unerträglich viele Kinder und Jugendliche. Zum Teil grausam massakriert, zum Teil zynisch als Kollateralschaden in Kauf genommen. Generalisierungen und Oberflächlichkeiten helfen hier ganz gewiss nicht weiter. Und doch können wir versuchen, die „strukturelle Sünde“ zu benennen, die an der Wurzel aller großen Katastrophen unserer Zeit zu orten ist. Sei es nun der Klimakollaps, die Massenmigration, die terroristischen Gewaltexzesse, die kriegerischen Auseinandersetzungen: die Wurzelsünde in all dem, ist -  immer noch - die Logik des Kapitalismus, der gierigen Anhäufung von Kapital und Ressourcen der einen und der Verelendung der anderen.

2.   Was verbindet jesuanische „Kapitalismuskritik“ mit der „Letzten Generation“

Ich arbeite an der Universität in San Salvador/El Salvador in der Ignacio Ellacuría 1989 ermordet wurde. Seine Seligsprechung mit etwa fünfzig anderen salvadorianischen Märtyrern ist eingeleitet. Ellacuría definiert die Logik des Kapitalismus so: „Letztlich schlägt sie die private Anhäufung von möglichst viel Kapital durch Einzelpersonen, Gruppen, multinationale Unternehmen, Staaten oder Staatengruppen als grundlegende Basis für Entwicklung vor.“[4] Ellacuría sagt es mit prophetischer Schärfe, dies ist letztlich mörderisch für alle, auch für die, die scheinbar die aktuellen Gewinner sind. So gibt es für ihn auch keine Reform innerhalb des Systems, sondern nur radikale Umkehr. In einer Neuformulierung der Zwei-Banner-Betrachtung stellt er deshalb der „Zivilisation des Reichtums“ die „Zivilisation der Armut“ dialektisch entgegen: „Die Zivilisation der Armut [...] lehnt die Akkumulation des Kapitals als Motor der Geschichte und den Besitz-Genuss von Reichtum als Prinzip der Humanisierung ab und macht die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller zum Prinzip der Entwicklung und die Steigerung der gemeinsamen Solidarität zum Fundament der Humanisierung.“[5]

Wer wenn nicht wir als Ordenschristen, sind neu und kreativ gerufen, diese „Zivilisation der Armut“ zu leben, wir haben sogar ein feierliches Gelübde abgelegt es zu tun. Selbstverständlich auch schon Ellacuría wusste, dass die Lösung nicht in einer bloßen Umverteilung liegen kann, so skandalös auch die katastrophale Ungleichverteilung der Ressourcen auf unserem Planeten sein mag. Auch er wusste, dass ein radikaler Systemwandel ein „system chance“ nottut und seine Analyse hat noch immer Geltung. Und doch sind wir heute in eine neue, dramatische Phase getreten. In noch nie dagewesener Dringlichkeit wissen wir, wie sehr der Kapitalismus, nicht nur die Verelendung eines Teils der Weltbevölkerung bedeutet, sondern die Lebensgrundlagen aller zerstört. (So zynisch es ist, dies auszusprechen, doch dies bedeutet ja vielleicht auch eine Chance.) All das, worauf christliche Schöpfungstheologie zielt, die Erde als bewohnbarer Raum für den Menschen als solcher, ist in Gefahr vom Menschen definitiv ruiniert zu werden. „…und selbst eine so verheerte Erde wird immer noch weitaus lebensfreundlicher sein als der Mars, von dessen Besiedlung sich ein paar kindische Geschäftsmänner Rettung erhoffen.“[6]

Selbstverständlich wäre es besser, wenn die Ressourcen gerechter verteilt wären, innerhalb der einzelnen Gesellschaften und zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Das wenig überraschende Ergebnis des diesjährigen „Welt-Glücks-Berichts“ ist, dass der „Glücks-index“ in den Ländern am höchsten ist, wo die sozio-ökonomische Ungleichheit am geringsten ist. Finnland ist das glücklichste Land. Doch das Problem an der Wurzel ist, wie definieren wir überhaupt Eigentum; oder besser gesagt, die Eigentumslogik als solche ist das Problem. Die biblische Tradition trifft sich mit dem Aufschrei indigener Gruppen: „die Erde, wie das Wasser, ist kein Eigentum. Sie ist Leben.“  „Du kannst Du Sonne nicht kaufen, Du kannst den Regen nicht kaufen, Du kannst mein Leben nicht kaufen…. DIE ERDE IST NICHT KÄUFLICH“ lautet eine Zeile in einem Lied der lateinamerikanische Gruppe Calle 13.

Die Logik des Besitzes insinuiert, der Besitzende hätte das Recht über sein Eigentum „frei“, also nach Gutdünken, zu verfügen. In der Sprache der Philosophin: „Das moderne Eigentum stiftet ein Weltverhältnis der Verfügungshoheit und der Verletzungslizenz.“[7] Übersetzt: Dem Eigentümer stehe das Recht zu, aus seinem Besitz das Maximum an Profit herauszuholen und das was zurückbleibt als Abfall möglichst kostengünstig zu entsorgen. In dieser Logik werden konsequent immer größere Zonen unserer Erde mit Beton versiegelt, mit Umweltgiften oder Mikroplastik verseucht oder zur Unfruchtbarkeit verwüstet. „Strategie der verbrannten Erde“ nannten die salvadorianischen Militärs ihre Taktik der Kriegsführung gegen die Guerilla in der grausamsten Zeit des Bürgerkriegs, das Leben in den verwüsten Zonen unlebbar zu machen. Es scheint, der gegenwärtige Kapitalismus verfolgt heute blindwütig diese „Strategie der verbrannten Erde“ gegen die kommenden Generationen der Menschheit. Nicht nur einzelne Zonen werden nach und nach verwüstet, sondern der ganze Planet. Die Goldminen ziehen weiter, wo nichts mehr zu holen ist, das Ökosystem zerstört und das Trinkwasser mit Quecksilber und Zyanid verseucht ist. Sie ziehen weiter um die nächsten indigenen Gemeinden brutal zu vertreiben. Die Brandrodung im Amazonas geht weiter, um Platz für die Viehhaltung und den Sojaanbau zu schaffen und so den unersättlichen Fleischhunger des Nordens zu bedienen und „Biosprit“ zu produzieren. Und Beispiele in dieser Logik lassen sich endlos fortsetzen.

„Letzte Generation“ ist deshalb nur folgerichtig die Selbstbezeichnung der jungen KlimaaktivistenInnen. Wir mögen von ihnen noch so genervt sein, oder einzelne ihrer Aussagen, politischen Haltungen oder Handlungen ablehnen, es würde uns dennoch uns gut anstehen, endlich und wirklich auf sie zu hören. Zumindest Papst Franziskus hat sie in die Vatikanischen Gärten zur Präsentation von Laudate Deum eingeladen. Wir geben in diesem Kontext doch häufig „liebe“ Absichtserklärungen ab, versprechen unseren Müll sauber zu trennen, brav unser „Ökoaudit“ durchzuführen und fallen doch immer wieder hoffnungslos auf das Greenwashing der Produktwerbung herein; sind weit davon entfernt wirklich substantiell etwas zu ändern.

Was tut also wirklich not? Dietrich Bonhoeffer hat angesichts der Tötungsmaschinerie der Nazi den provokanten Satz formuliert: Es genügt „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden“, sondern wir sind gefordert dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ Und solches „unmittelbar politisches Handeln der Kirche“ ist immer dann „gefordert, wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht.“[8] Sind wir heute als Kirche und Ordenschristen nicht wieder in dieser Situation; und zwar nicht nur im nationalen, sondern im globalen Kontext? Die globalen Institutionen, mit Milliardenbudgets ausgestattet, scheinen hilf- und zahnlos, sowohl angesichts der brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen, wie auch angesichts der rücksichtlosen und irrationalen Priorisierung wirtschaftlicher Interessen. Die Weltklimakonferenzen geben inzwischen das Bild der Bordkapelle auf der Titanic ab.

3.   Die „neuen Protestformen“ als Inspiration zum prophetischen Zeugnis und politischen Handeln

Was also tun? Wie dem Rad in die Speichen fallen? Zumindest einen hoffnungsstiftenden Versuch, der uns Ordenschristen inspirieren könnte, sehe ich in den „neuen Protestformen“. Sie entstehen meist von unten, dort wo Menschen sich zusammenfinden, weil sie gemeinsam gegenzerstörtes Leben aufschreien. Dakota-Indianer gegen die Öl-Pipeline, die mit ihren Lecks ihr Grundwasser verseucht und damit ihr Land unbewohnbar macht; die Black-Lives-Matter-Bewegung, gegen weißen Polizeigewalt, die obwohl die Sklaverei seit 160 Jahren abgeschafft ist, schwarzes Leben noch immer „Verfügungseigentum“ inklusive zum Recht auf Auslöschung erachtet; die feministische Kollektive „Ni-una-menos“ in Argentinien gegen den Machismo, der obwohl dies längst jeder legalen Grundlage entbehrt, einer Männlichkeit huldigt, für die die Dominanz über die Frau Auszeichnung bedeutet; einer Männlichkeit, die zu Kontrolle und Züchtigung ermächtigt, die schließlich in der nicht enden wollenden Reihe von Femiziden durch Ehepartnern und Expartnern endet, auch in Österreich; last but not least die letzte Generation, die dem Berufspendler mit ihrer Autobahnblockade verständlicherweise tierisch auf die Nerven geht, doch es ist der verzweifelte Schrei nach einem „Halt“ entgegen jedem „Weiter so“.

Eine von ihnen formuliert: „Wir brauchen momentan die größtmögliche Störung, diesen symbolischen Stopp, um Politik und Menschen darauf aufmerksam zu machen, auf welche Katastrophe wir gerade zusteuern.“[9] Und „in den massiven Protesten Ende Mai 2020 legten sich DemonstrantInnen für genau die acht Minuten und 46 Sekunden auf den Boden, die der weiße Polizist auf dem Nacken von George Floyd kniete und ihn dadurch kaltblütig umbrachte.“[10] „Die-ins“ (in Analogie zu den Sit-ins“), das gemeinsame Sich-Totstellen ist ein wichtiges Instrument der neuen Protestformen. Lauter als mit dieser lautlosen kollektiven Pantomime könnte man es eigentlich nicht hinausschreien: „Wir werden alle tot sein!“[11]

Sind wir bereit gemeinsame Sache mit diesen neuen Protestformen zu machen? Nicht nur mit unserem Wort, sondern wirklich mit unseren Körpern dem Rad in die Speichen zu fallen? Auch wenn wir wissen, dass dies weh tun wird. Auch wenn wir wissen, wie dies für Dietrich Bonhoeffer und wie dies für Jesus endete. Es wäre menschlich nicht gesund, wenn wir uns nicht überfordert fühlen würden, wenn wir davor nicht zurückschrecken würden. Einerseits deshalb, weil uns diese neuen Protestformen samt ihren Inhalten fremd sind und sie vielfach unsere eigenen Überzeugungen hinterfragen und erschüttern. Und andererseits weil uns die Konsequenzen Angst machen, die dies alles für uns haben könnte. Doch uns dies in aller Ehrlichkeit einzugestehen, ist jedenfalls weitaus redlicher, als aufzuzählen, was wir ohnedies schon alles tun würden oder uns in Verbalradikalismus zu flüchten.

Christ-sein und schon gar nicht „Ordenschrist-sein“ ist nie nur ein individuelles Unterfangen. Es ist immer Sein in Verbundenheit. Leben in der Weise Jesu stiftet notwendig Gemeinschaft, Kommunion. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs schrieb Teilhard de Chardin: „Es gibt eine Kommunion mit Gott und eine Kommunion mit der Erde, und eine Kommunion mit Gott durch die Erde.“[12]

Nur mühsam lernen wir in der okzidentalen Welt, dass der Nabel der Welt nicht ein autonomes „Ich“ ist, dass sich unabhängig, „frei“ von jeder Beziehung und Verwurzelung in der Erde denkt. Als Mensch bin ich wesentlich „Sein in Beziehung“, ich bin immer Teil eines größeren Ganzen. Teilhard der Chardin paraphrasierend: ich als Individuum in Kommunion mit allen, die menschliches Antlitz tragen; ich als Individuum und die ganze Menschheit in Kommunion mit allem was lebt und den ganzem Universum; und mittels der Kommunion aller Menschen und mittels der Kommunion mit allem Lebendigem und dem Universum in Kommunion mit Gott.

Redecker, die Autorin des Buches, die gar nicht religiös ist, spricht von „Momenten der Gnade“ wenn sich dazu auf öffentlichen Plätzen plötzlich Menschen zusammenfinden, die sich vorher gar nicht kannten, die aus ganz verschiedenen kulturellen Welten kommen und die doch die Leidenschaft für das Leben verbindet, moderne Pfingstereignisse.

Lassen Sie uns also die „Gemeinde Jesu“, die „katholische (allumfassende) Kirche“ nicht zu klein denken! Leben in Beziehung im Sinne Jesu schließt jedes sektenhaftes Denken aus. Es schließt aus, uns als Ordensgemeinschaft oder als Kirche als abgeschlossene Monade gegenüber den „Anderen“ zu definieren. Es schließt auch eine Vorstellung von „katholischer Kirche“ oder „weltweiter Ordensgemeinschaften“ im Sinne der modernen multinationalen Konzerne aus: ein weltweites Unternehmen, dass seine Kommandozentrale in Rom (oder wo auch immer sonst) hat und seine Filialen über den Erdball verteilt – und wieder schließt, sobald sie unrentabel geworden sind. Es geht nicht, um eine Strategie, um international effektiv handlungsfähig zu sein. Uns in diesem Sinne als „global player“ zu verstehen, ist meines Erachtens hoch problematisch. Wir sind vielmehr immer Teil eines kosmischen Ganzen.

4.   Nicht von „oben“ verordnet, nicht einsame Pioniere, sondern in „wilder Verbundenheit“

Mich hat in dem Buch über die Neuen Protestformen sehr die Metapher vom Myzel angesprochen, vom Wurzelgeflecht, den vielen feinen Fäden durch die Pilze unter dem Waldboden verbunden sind. Selbst dort, wo man keine Fruchtkörper sieht, lebt der Pilz unter der Oberfläche. Gegen die Logik des effektiven Handelns, in dem der Einzelne gilt, so viel er leistet, Profit erwirtschaftet und entsorgt wird, sobald ihm dies nicht mehr möglich ist, erinnert die Metapher vom Myzel zunächst daran, dass wir unser Überleben anderen schulden und es nur im Austausch miteinander möglich ist. „Pilze sind so wild und dicht verbunden wie ein neuronales Netzwerk, sie trachten einander nicht nach Leib und Leben, sondern teilen es.“[13] Natürlich gibt es in der Pflanzenwelt auch parasitäre Vernetzungen, Pflanzen, deren Wurzelverbindungen ihren Wirt zerstören. Doch die Pilze sind nicht nur untereinander verbunden, sondern ihre Vernetzungen sind darüber hinaus lebendige Kommunikationsstrukturen in einem funktionierenden Ökosystem „Wald“. „Die an die Baumwurzeln anlagernden Pilzfäden schließen Spurenelemente und Nährstoffe auf, die die Bäume allein gar nicht aufnehmen könnten. Dafür spülen die Bäume Zucker, den sie per Photosynthese gewinnen, zurück zu den Pilzen, die ohne diesen Nährstofffluss nicht leben könnten.“[14]

Wir Menschen sind keine Pilze, wir sind nicht einfach durch ein evolutionäres Programm bestimmt, auch nicht zum alternativlosen Raubtierkapitalismus verdammt. Wir sind frei, ob wir weiter parasitär leben wollen oder ob wir radikal umkehren wollen, zu wahrhafter „Katholizität“, die alle und alles einschließt, in lebendigem Nährstofffluss mit allen Menschen und allem Lebendigem.

Ich möchte jetzt jenseits der Metaphern in Bezug auf das Ordensleben deutlich werden, ausgehend von meiner eigenen Tradition. Wir sind stolz darauf, dass wir nach Jahrhunderten einer schwierigen Geschichte, dem Wunsch unserer Gründerin nachkommen konnten und nach den ignatianischen Konstitutionen leben dürfen – und das mit Recht. Lassen sie mich dabei jedoch freimütig eine grundlegende Schwierigkeit beim Namen nennen. Der soziokulturelle Kontext, in dem Ignatius, aber auch Mary Ward, ihr Charisma in eine institutionelle Form zu bringen suchten, war durch und durch hierarchisch, von einer feudalen Gesellschaft und vom politischen Absolutismus bestimmt: Gott, die von Gottes Gnaden eingesetzte hierarchische Spitze und von ihr leiten sich alle anderen Funktionen ab und werden von oben nach unten delegiert. Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, determiniert dies auch heute noch das Kirchenrecht und die davon normierten Ordensregeln – und trifft sich auf sonderbare und problematische Weise mit den neuen Autoritarismen, der politischen Systeme, aber auch der Strukturen der neoliberalen Wirtschaft.

Papst Franziskus geißelt immer und immer wieder den Klerikalismus und ruft uns leidenschaftlich zur Synodalität auf. Ich kann mich darüber nur freuen. Doch dies erscheint in der Realität kirchlicher Praxis, doch immer wieder nur so etwas wie eine wünschen „emotionale Qualität“, die sich in der Stunde der Wahrheit den harten rechtlichen Fakten zu beugen hat. (In seinen letzten Jahren hat Johann Baptist Metz, immer wieder beteuert, dass sein Irrtum war, nicht beim Kirchenrecht angesetzt zu haben.) Formulierungen wie „hierarchische heilige Mutter Kirche“ können und dürfen wir nicht mehr unkritisch wiederholen. Gegen allen „ignatianischen“ oder sonstigen Fundamentalismus muss uns bewusst sein, Ordensregeln oder Konstitutionen sind der Versuch der „Vergeschichtlichung“, der Inkarnierung des Evangeliums in einem ganz bestimmten historischen Kontext. Sie sind also Produkt ihrer Zeit. Es ist zwar durchaus überraschend, welche Korrekturmechanismen Ignatius entgegen dem damaligen Zeitgeist, dem „Common Sense“ seines geschichtlichen Moments, im Sinne des Evangeliums in seine Weise den Orden zu organisieren, eingebaut hat. Doch das, was uns unbedingt verpflichtet, ist nicht eine Organisationsform aus dem 16., 17, 18. oder 19. Jahrhundert, sondern die Weise Jesu Gemeinschaft zu stiften. Sie ist einfach, geschwisterlich – und von großer menschlicher Wärme, um den vom Bankett der Reichen und Mächtigen Ausgeschlossenen Geborgenheit zu geben und das Leben mit ihnen zu teilen. All dies hat meiner Erachtens wesentlich mehr mit den neuen Protestformen zu tun, als mit gegenwärtig geltenden Kirchenrecht. Um mich nicht um Kopf und Kragen zu reden, breche ich hier ab. Doch nur so viel: Wir sind der Kirche gewiss nicht schuldig „brave Töchter und Söhne“ zu sein, sondern vielmehr prophetisch an den jesuanischen Ursprung und den rebellischen Anfang des Ordenslebens zu erinnern.

5.   „Gerechtigkeit tun, Liebe üben und demütig den Weg mit deinem Gott gehen.“ Micha 6,8

Die neuen Protestformen lassen sich nicht organisieren, sie ploppen von unten auf, so wie Pilze im warmen Regen. Nochmals, das ist kein Naturereignis, wir sind freie Menschen, die sich für oder gegen diese Revolution für das Leben entscheiden können. Wollen wir weiter bei mörderischen Praktiken wegschauen oder ihnen mutig mit unserer Stimme und unseren Körpern Einhalt gebieten? Dass dies kein von oben angeordneter oder organisierter Protest ist, gibt mir Hoffnung. Zu viele frustrierte Heilsversprechen sind von oben gekommen haben unsägliches Leid über Menschen gebracht. Und doch schaffen es die Exponenten des politischen Populismus immer und immer wieder sich als Messias zu inszenieren. Ihre Trollfarmen eröffnen ihnen von den Faschisten der Vergangenheit ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation und Propaganda.

„Erlösung kommt von unten“ formuliert Jon Sobrino. Und je länger, je mehr stimme ich ihm zu Es ist die schlichte Weihnachtsbotschaft. Ellacuría formuliert es zehn Tage vor seiner Ermordung so: „Nur utopisch und hoffnungsvoll kann man glauben und den Mut haben, mit allen Armen und Unterdrückten der Welt zu versuchen, die Geschichte umzukehren, sie zu unterlaufen und in eine andere Richtung zu lenken.“[15]

Die „Revolution für das Leben“ ist kein heroischer Akt einsamer Pioniere. Sondern so etwas wie üppiges Myzel, das sich zwischen allen, die den Aufstand wagen, entwickelt. Das ist nicht dem Internet geschuldet, dieses ist höchstens ein – ambivalentes - Werkzeug. Wesentlich ist die vitale Beziehung, die sich wechselseitig ermutigt, stärkt, Ressourcen teilt und gemeinsam Strategien entwickelt. Es ist eine lebendige, und deshalb unkontrollierbare, Vernetzung. Dabei wird uns hoffentlich auch endlich die katastrophale Arroganz und die tödliche Dynamik der Annahme aufgehen, der globale Norden hätte die Konzepte der Lösung für die Probleme unseres Planeten und der globale Süden müsste nur erst auf unser Entwicklungsniveau kommen. Die Ressourcen indigener Traditionen sind vielmehr die, die das Überleben der Menschheit retten können, wir sind auf sie angewiesen.

Um auf die Ausgangsdiagnose zurückzukommen: Wir leben nicht in Erwartung der Katastrophe, wir leben längst mitten in ihr. „Dieses Treibhaus ist ein Schlachthof. Jeden Tag sterben 130 Tier- und Pflanzenarten aus.“[16] In den letzten fünfzig Jahren haben wir bereits 82 Prozent der Biodiversität verloren. Das wirklich zu realisieren, kann paradoxerweise Hoffnung stiften. Dass die Einsicht in die Katastrophe, Hoffnung freizusetzen vermag, war auch die Erkenntnis der biblischen Apokalyptiker. Indem wir uns nicht länger etwas vormachen, entdecken wir gerade die Trauer, um das schon unwiederbringlich Verlorene, als Potential. Eine Trauer, die sich nicht im Privaten und der Vereinzelung isoliert, sondern sich für andere öffnet, „zusammenfließt“ und unerwartete Energien in einer wirklicher universalen Kommunion freisetzt. Frei nach dem Motto, „es ist schon verloren, lasst uns handeln!“ Als Christen, deren Glauben beim gekreuzigten Jesus von Nazareth ansetzt, dürfte uns diese Logik nicht fremd sein.

Die Geste der Revolution für das Leben – im Namen des Schöpfers des Himmels und der Erde – zielt immer aufs Ganze, ist immer politisch. Doch eingeübt wird sie im Kleinen. Revolutionen beginnen von unten. Inmitten eines vielleicht widrigen Kontexts können wir anfangen lebensfreundliche Beziehungsformen einzuüben, wohlgemerkt in der Form des Myzels, nicht in der Art des Rückzugs in unsere „Blase“, in der wir uns nur mit Unseresgleichen verständigen. So erschließt sich neu das biblische Gleichnis vom Sauerteig, das Ferment, das letztlich stärker ist, als das „System“ und seine Gewalt. Und deshalb ist das Mutigste, das wir tun können, bereit zu sein, uns zu verlieren, um dem Leben eine Chance zu geben.

Deshalb ein letztes, was ich Ihnen sagen möchte: „Habt keine Angst!“ Angst davor Eure Identität zu verlieren. Identität wird uns in Beziehungen geschenkt. Wenn wir bereit sind loszulassen, werden wir dreißig-, sechzig, hundertfach zurückbekommen. Habt keine Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ihr seid gesegnet, wenn ihr rebellische Schwestern und Brüder in der Nachfolge des Rebell Jesus in Euren Reihen habt; junge und alte, die sich mutig und ohne Berührungsängste dorthin wagen, dorthin wo Leben in Gefahr ist, dorthin wo verlorenes Leben betrauert wird, aber auch dorthin wo heute das Leben pulsiert,. „Die Welt wahren in wilder Verbundenheit“, bringt es die Autorin, deren Buch mich inspiriert, auf den Punkt. Lasst uns die Welt wahren in wilder Verbundenheit!

[1] S. Kierkegarrd, zit. n. E. Przywara, Das Geheimnis Kierkegaards, München/Berlin, 1929, 70.
[2] J. B. Metz, Zeit der Orden. Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg, 1977.
[3] E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt, 2020.​​​​​​​
[4] I. Ellacuría, Utopie und Prophetie, in: Mysterium Liberationis I, Luzern 1995, 415.​​​​​​​
[5] Ebda.​​​​​​​
[6] Redecker, 140 (zitiert nach dem E-book).​​​​​​​
[7] Redecker, 15.​​​​​​​
[8] D. Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage, DBW 12, 353f.​​​​​​​
[9] https://taz.de/Aktivistin-ueber-die-Letzte-Generation/!5831243/​​​​​​​ 
[10] Redecker, 123.​​​​​​​
[11] Vgl. Redecker, 119.​​​​​​​
[12] P. Teilhard de Chardin, Escritos en tiempo de guerra, Nueva York, 1968, 14.​​​​​​​
[13] Redecker, 229.​​​​​​​
[14] Redecker, 231.​​​​​​​
[15] I. Ellacuría, El desafío de las mayorías pobres, Diskurs gehalten am 6. November 1989 in Barcelona.​​​​​​​
[16] Redecker, 12.​​​​​​​​​​​​​

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