„Erlösung kommt von unten“: Einsatz in El Salvador

Wie die Erfahrung von Kreuz und Leid in Versöhnung und Würde verwandelt werden kann

Die Wunden des Bürgerkrieges in El Salvador sind noch nicht verheilt, da überrollt eine neue Gewaltwelle das Land: Jugendbanden terrorisieren die Bevölkerung und verursachen großes Leid. Wie gelingt ein Ausstieg aus dieser Gewaltspirale? Prof. Dr. Martha Zechmeister CJ hat das Projekt „Gewalt und Erlösung“ entwickelt. Ihr Ansatz lautet: „Erlösung kommt von unten“.

Zur Person

Sr. Martha Zechmeister lehrt seit zehn Jahren systematische Theologie, mit den Schwerpunkten Theologische Antrophologie und Spiritualität an der UCA, der Universidad Centroamericana „José Simeón Cañas“ in San Salvador. In der Haupsttadt El Salvadors lebt sie zusammen mit neun Studentinnen und derzeit zwei Mitschwestern der Congregatio Jesu aus Brasilien und Chile.

Eigentlich wollte die gebürtige Österreicherin beim Ordenseintritt vor fast 40 Jahren nach Indien. Nach ihrer Promotion und Habilitation kam sie durch die Bemerkung eines Freundes eher zufällig auf El Salvador. Es folgten ein Jahr Gastprofessur sowie neun Jahre, in denen sie zwar als Professorin in Passau lehrte, aber immer den Kontakt hielt. Seit 2008 ist sie Professorin für Systematische Theologie an der UCA und seit 2012 auch Direktorin des Masterstudiengangs „Teología Latinoamericana“.

Ihr zentrales Anliegen ist Gerechtigkeit – als eine Begegnung auf Augenhöhe, die den Anderen in seinem Anderssein wahrnimmt. Bezogen auf die Gewalt durch die Bürgerkriege in El Salvador und aktuell die Banden, die sogenannten Maras, bedeutet das: den Opfern ganz konkret eine Sprache und damit Souveränität zurückgeben. International versteht sie darunter einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Europa und Lateinamerika, in dem die Kompetenzen aller Beteiligten ebenbürtig eingebracht werden.

Erfahren Sie mehr darüber, was das Projekt von Sr. Martha konkret beinhaltet und wie das Leid der Überlebenden zur Grundlage für Erlösung werden kann:

„Christliche Liebe ist der Realismus, der die Wirklichkeit mit offenen Augen wahrnimmt, ihr standhält, aber nicht in Ohnmacht kippt; sie bedeutet, sich bewusst zu sein, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind und dennoch das mir Mögliche zu tun.“ beschreibt Sr. Martha Zechmeister CJ ihren Einsatz und das Forschungsprojekt „Gewalt und Erlösung“, das sie gemeinsam mit ihren Mitarbeitern an der UCA, der „Universidad Centroamericana José Simeón Cañas“ in El Salvador initiiert hat. Welche Kraft dieser Satz hat und welche tiefe Dimension, wird angesichts der Realität El Salvadors deutlich:

Von 1980 bis 1992 wurde El Salvador vom Bürgerkrieg gegeißelt, viele Salvadorianer, sind heute noch immer von den damals erlittenen Traumata gezeichnet. Vorausgegangen, waren massive soziale Spannungen, Folge der extrem ungerechten Landverteilung und der Ausbeutung der Landarbeiter durch Großgrundbesitzer, die den Familien der Campesinos nicht einmal das Minimum des Überlebensnotwendigen ließ. Jeder Protest wurde im Keim mit Gewaltexzessen erstickt, Militärs und Paramilitärs, die „Todesschwadronen“, hatten das Land fest im Griff. Prominentestes Opfer ihrer Grausamkeit ist der inzwischen seliggesprochene Bischof Oscar Romero, damals die lauteste und lauterste Stimme der Gerechtigkeit. Im Bürgerkrieg, der nach seiner Ermordung eskalierte, und bei dem die Militärs massiv von der US-Regierung unterstützt wurden, starben über 70.000 Menschen, unzählige wurden verletzt und traumatisiert.


Sr. Martha Zechmeister (links) und ihr Team in San Salvador

Eine Aufarbeitung der Geschehnisse wurde dadurch unmöglich gemacht, dass ein Jahr nach dem Friedenschluss zwischen Militär und Guerilla vom Parlament eine Amnestie für die Täter der Kriegsverbrechen erlassen wurde. Dennoch wird seitdem von vielen Organisationen, unter anderem der UCA, versucht, den Bürgerkriegsopfern, die vielfach als Lügner gebrandmarkt wurden, öffentlich Gehör zu verschaffen. Sie fordern nicht Rache, doch die Anerkennung der Wahrheit und ein Minimum an Unterstützung, um in ein normales Leben zurückzufinden.

Das Projekt „Gewalt und Erlösung“: ein neuer Ansatz für Versöhnung

Die Tragik der aktuellen Situation liegt darin, dass die nie verheilten Wunden der salvadorianischen Gesellschaft längst von einer neuen Gewaltwelle überrollt wurden. Gegen Ende des Bürgerkriegs emigrierten viele junge Salvadorianer in die USA, um so der Gewalt und Zwangsrekrutierung zu entkommen. Dort wiederum marginalisiert und gedemütigt, assimilierten sie sich teilweise in der Subkultur der Gangs in Los Angeles. In verschiedenen „Säuberungswellen“ zurück nach El Salvador deportiert, wurden sie zum Samen der „Maras“, mehrerer rivalisierender Jugendbanden, die sich wechselseitig grausam bekriegen.

Verzweifelte Jugendliche ohne Perspektive, selbst Opfer der Ausgrenzung, terrorisieren sich gegenseitig und vor allem die armen Menschen in den suburbanen Elendszonen der Hauptstadt. So ernst dieses Phänomen auch ist, so sehr werden die Maras missbraucht, um mit ihnen alle Übel zu erklären und um von den wirklichen Drahtziehern und Interessen abzulenken: von einer ineffizienten und korrupten Politik, von der mit ihr verfilzten Waffen- und Drogenmafia, vom Interesse lukrativer privater Sicherheitsdienste, … Vor allem aber rechtfertigt die Gewalt der Jugendlichen eine neuerliche Militarisierung des Landes; dort wo sich die Armut ballt, gehen Polizei und Militär wiederum mit brutaler Härte vor, verprügeln und foltern Jugendliche grundlos, „präventiv“ – und auch wenn sie dies leugnen, versuchen sie, dem Phänomen der Maras mit „außergerichtlichen Exekutionen“ Herr zu werden. Das heißt im Klartext: Jugendliche werden ohne Gerichtsverfahren auf bloßen Verdacht hin von den staatlichen Organen ermordet.


Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Martha Zechmeister besprechen ihre Arbeitsergebnisse

Ausstieg aus der Gewaltspirale

Wie gelingt ein Ausstieg aus dieser Gewaltspirale? Prof. Dr. Martha Zechmeister, Ordensschwester der Congregatio Jesu, hat zusammen mit ihren Mitarbeitern des Masterstudiengangs „Teología Latinoamericana“ der UCA, das Projekt „Gewalt und Erlösung“ entwickelt. Ihr Ansatz lautet: „Erlösung kommt von unten“. Dieser Satz des Jesuiten Jon Sobrino, eines Überlebenden des Massakers von 1989 an der Jesuitenkommunität der UCA, bedeutet für sie konkret: Erlösung, Versöhnung und Frieden geht von den Opfern aus. Eine substantielle Veränderung kommt nicht von noch so gut gemeinten Projekten und Initiativen „von außen“ und „von oben“ – auch wenn diese noch so fundiert und finanzkräftig wären – sondern vielmehr von den Opfern selbst. Sie selbst sind die Experten für das, was sie durchmachen und in ihnen steckt das Potential, den Teufelskreis zu durchbrechen und die barbarische Situation zum Menschlichen zu wandeln.

Das konkrete Projekt

Ziel des Projektes ist es deshalb zunächst, den Opfern der Gewalt aufmerksam zuzuhören, ohne moralische Vorurteile die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen – auch die der Täter, die oft selber Opfer sind, Opfer und Täter des Terrors der Armen gegen die Armen. Insgesamt 15 Männer und Frauen, Opfer von den Jugendbanden, aber auch von staatlicher Gewalt, kamen deshalb in einer Serie von jeweils drei qualitativen Einzelinterviews zu Wort. Diese Opfer haben ganz unterschiedliche Hintergründe und Schicksale: eine Familie, deren Sohn von einer Gang ermordet wurde; ein Polizist, der von seinen Vorgesetzen gezwungen wird, Mareros zu liquidieren und der nun in permanenter Angst vor ihrer Rache lebt; ein Transvestit, der zusätzlich zur „normalen“ Gewalt, mit der er in einer machistischen Gesellschaft konfrontiert ist, den massiven Drohungen der Banden ausgesetzt ist. Alle haben Gewalt erfahren, wurden schwer traumatisiert und müssen immer wieder aufs Neue untertauchen und alle sozialen Brücken hinter sich abbrechen.

Vier Schritte

Aus diesen Erzählungen wurden gemeinsam von den Mitarbeitern im Projekt und den Opfern vier Schritte entwickelt:

  1. Den Skandal wahrnehmen
    Diesen ersten Schritt nennt Sr. Martha Zechmeister einen „Akt der Kontemplation“: Es geht um den Mut, wirklich hinzuschauen und das Leiden der Opfer wahr sein zu lassen; sich von ihm verletzen zu lassen und es nicht mit besserwisserischer Reflexion zu überfahren und zu relativieren. Mit den Worten Ignacios Ellacurías, eines der 1989 ermordeten Jesuiten, geht es darum, „das Gewicht der Wirklichkeit auf sich zu nehmen“.
     
  2. Die Opfer als Experten für die Gründe und Ursachen ihrer Situation
    Die Opfer werden als Protagonisten und Subjekte ihres Leidensweges anerkannt. Die Mitarbeiter wollen nicht schneller und besser als sie selbst über die Ursachen der Leiden der Opfer Bescheid wissen. Diese beschreiben erstaunlich exakt, worin sie die Gründe für ihre gegenwärtige Situation sehen:

    „Ob nun die Linke oder die Rechte regiert, … für sie ist die Gewalt ein Geschäft, sie verkaufen Waffen und erhalten Geld von anderen Ländern wegen der Sicherheitssituation … sie bereichern sich und wir sind ihre Marionetten.“ William, ein Polizist, der von seinen Vorgesetzten zur Lynchjustiz an Bandenmitgliedern gezwungen wurde.

  3. Das Leben in den Opfern wahrnehmen
    Die vitale Kraft den Teufelskreis der Gewalt zu unterbrechen, ist in den Opfern selbst, sie werden zu Subjekten der „Erlösung“ für die gesamte salvadorianische Gesellschaft, letztlich für eine unmenschliche globale Welt. Die Opfer haben es satt, dass sich weiter Arme gegen Arme aufhetzen lassen, eine Jugendbande gegen die andere „feindliche“ Gang, das Bandenmitglied gegen den Polizist. Sich wechselseitig wieder als Menschen wahrzunehmen, als Opfer derselben unheilvollen Situation und Empathie für den anderen, selbst für den „Feind“, zu entwickeln, ist das, worauf sie setzen.

    „In die Schuhe des anderen schlüpfen … ich denke, dass die Empathie und die Sensibilität für den Nächsten eine wichtige Rolle spielt … Ich brauche niemanden zu diskriminieren. … Ich glaube, das Problem in unserem Land ist: wenn es keine Empathie gibt, wird es immer kulturelle, soziale und emotionale Ungleichheit und Ungerechtigkeit geben.“ Ana, eine zwanzigjährige Studentin, die in einem der gefährlichsten Bezirke San Salvadors lebt und für die Armut, Bandenkrieg und häusliche Gewalt von Kindesbeinen zum Alltag zum Alltag gehört.

  4. Schritte zum Leben
    Es gilt „dem Meer des Todes Leben abzugewinnen“ (D. Sölle) – Das Projekt versucht, sich mit Initiativen zu vernetzen und von ihnen zu lernen, die inmitten der tödlichen Situationen gemeinsam mit den Opfern versuchen, „Lebensorte“ zu schaffen. Niemals dürfen Verbrechen billig entschuldigt werden, doch die „Ausrottung“ der Maras ist gewiss kein Weg zum Frieden, sondern schraubt die Gewaltspirale immer weiter hoch. Die „Kultur“ der Maras nicht weiter zu dämonisieren, sondern sie verstehen zu lernen, ist entscheidend: ihre Kleidung, ihre Tattoos, ihre Sprache, ihre Musik, ihre Graffiti.

Die Gewalt in El Salvador zu stoppen und die physischen sowie seelischen Wunden der Opfer zu heilen, ist eine Mammutaufgabe, die Jahre, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte und mehrere Generationen in Anspruch nehmen wird. Dessen sind sich Sr. Martha Zechmeister und ihr Team bewusst. Im Kleinen hat das Projekt jedoch schon erste Früchte getragen, angefangen bei den Interviewten selbst, die zum ersten Mal einen geschützten Raum gefunden haben, um über ihren Leidensweg zu reden.

Darüber hinaus hat es das Projekt geschafft, den Opfern in einer breiteren Öffentlichkeit, an der Universität, in den Medien und im kirchlichen Kontext in El Salvador Gehör zu verschaffen. Daraus nun, gemeinsam mit von der Gewalt betroffenen Gemeinden, Lektionen für eine gelingende Pastoral zu ziehen, ist lebendiges Zeichen einer Kirche der Armen an der Seite der Armen und Kernziel der zweiten Phase des Projekts.

Text: Sr. Birgit Stollhoff CJ
Bilder: Congregatio Jesu