Neuer Buchtipp für den Sommer: Der Reisende

Dr. Ralph Neuberth empfiehlt ein Buch, das schon über 80 Jahre alt ist, in Deutschland aber "verschollen" war. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis.

Der Reisende: Ein Juwel, das nach 80 Jahren wiederentdeckt wurde

Dieses Buch ist ein Juwel, auch wenn der Reisebericht keine ganz leichte Kost ist. Peter Graf und der Verlag Klett-Cotta haben dieses Juwel (wieder)entdeckt, das 1938 entstand, damals auch in verschiedenen Ländern erschien, aber in Deutschland bis jetzt „verschollen“ war. Und was da nach 80 (!) Jahren erstmals in einem deutschen Verlag erscheint, ist mehr als lesenswert: 

Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Jüdische Flüchtlinge erhalten in den Nachbarländern keine Zuflucht. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Da gibt es kein reines „schwarz“ und „weiß“, sondern viele Grautöne. Die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit wird auf ungeheuer intensive Weise spürbar. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage. 

Als Ulrich Alexander Boschwitz diesen außerordentlich beindruckenden Roman 1938/39 verfasste, war er gerade mal 23 Jahre alt. Sein Schicksal gleicht in gewisser Weise dem der Hauptfigur seines Romans. 1935 emigrierte er mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, studierte dann an der Pariser Sorbonne. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als „enemy alien“ interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende
7. Druckaufl. 2019, 303 Seiten, gebunden / auch als Taschenbuch erhältlich
ISBN: 978-3-608-98123-0
https://www.klett-cotta.de/buch/Moderne_Klassiker/Der_Reisende/90608

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