"Es ist für jeden hier ein Neuanfang“

3200 Menschen leben in Hannovers jüngstem Wohnquartier, das weiter wächst. Wie schlägt das Herz von Kronsrode? Eine Geschichte über Visionen, Brennpunkt-Sorgen, „Wolke 7“ und das Leben auf einer Insel

BIld: Ole Großjohann

 

Die Umzugskartons hat Melissa Schwab gerade erst ausgepackt. Seit einem Monat wohnt die 25-Jährige mit Tochter Meryem (4) in Hannovers jüngstem Wohnquartier Kronsrode. „Es ist noch alles sehr frisch“, sagt sie und lässt den Blick über den Iris-Runge-Platz schweifen, zu dem dieser Satz auch hervorragend passt. Ein Dutzend junger Bäume steht hier, Schatten werden sie erst in vielen Jahren spenden. Absperrbaken, Container und Baufahrzeuge zeugen davon, dass der Bau des Quartiers noch lange nicht abgeschlossen ist. Aber: Durch die Wasserspiele des Springbrunnens flitzen Kinder, Menschen tragen Einkaufstüten oder eilen zur StadtbahnHaltestelle, an den Tischen vor der Eisdiele und dem Dönerrestaurant sitzen Gäste. Das Leben zieht ein in Kronsrode. Aber in kleinen Schritten.

Es ist ein Stadtteil, der am Reißbrett entstanden ist. 10.000 Menschen sollen hier irgendwann wohnen, zwei von drei Bauabschnitten sind fertig. Die Kattenbrookstrift ist die Verbindung zum Kronsberg, die Schlagader, durch die das Leben pulsieren soll. Wenn irgendwann die Schuttberge und Schotterflächen verschwunden sind, wenn Geschäfte und Lokale in die noch weitgehend leere Ladenzeile ziehen. Im Moment konzentriert sich das Treiben auf den Iris-Runge-Platz, der in Melissa Schwabs ersten KronsrodeWochen schnell ihr liebster Treffpunkt wurde. Ihre Freundin Paulina Ade lebt hier schon länger. Und gerät direkt ins Schwärmen: „Die Atmosphäre ist ruhig, die Miete optimal, es gibt Spielplätze, Kitas, eine ganz neue Schule.“

Und da ist noch der Bonus einer Wohnung mit Blick auf die Expo-Plaza. „Wir haben neulich den Auftritt von DJ Martin Garrix vom Balkon aus erlebt, das ist Luxus pur.“ Die energische junge Mutter macht den Eindruck, das Viertel bereits erobert zu haben. „Es ist für jeden hier ein Neuanfang. Das macht es leicht, auf andere Leute zuzugehen“, sagt Ade energisch. Auch bei Schwab herrscht Aufbruchstimmung: „Ich bin offen für alles.“

Alles gut in Kronsrode? Eine 43-Jährige, die mit ihrer kleinen Tochter bei „Fiore“ ein Spaghettieis isst, sieht das skeptischer. Im Dezember ist sie von Kirchrode hergezogen, schätzt die Nähe zur Natur – und akzeptiert dafür auch einen Mietpreis von 13 Euro pro Quadratmeter. „Unsere Tochter soll sicher und frei aufwachsen. Hier ist es bunt und grün, man hat alle Möglichkeiten.“ Doch das „Aber“ steht übermächtig im Raum. „Abends fühle ich mich hier nicht so wohl. Hier könnte das Gleiche passieren wie am Kronsberg, es gibt Cliquenbildung“, bemängelt sie.

Die steigende Jugendkriminalität hatte 2023 am Kronsberg zu einem Bürgerdialog geführt. Den Vergleich zieht auch Christian, der tagsüber die Einkaufsmöglichkeiten bei Aldi, Rewe und Rossmann am Iris-Runge-Platz schätzt, abends aber eine andere Stimmung erlebt. „Das könnte ein Brennpunkt werden“, ahnt er und hat auch eine Erklärung parat. Er deutet auf die Klinkergebäude, die mit vier Geschossen höher seien als die Häuser am Kronsberg: „Das sind Betonklötze.“ Der 42-Jährige lebt mit Familie seit vielen Jahren am Kronsberg. „Ich kenne das hier noch als Wiese“, sagt er mit einem Schmunzeln über Kronsrode. Baustart für das Quartier, das zum Stadtbezirk Bemerode zählt, war im August 2020. Bauende ist noch lange nicht. An der Stirnseite des Iris-Runge-Platzes, jenseits der Kattenbrookstrift, führen Baustraßen ins Nirgendwo. Denn der dritte Abschnitt Kronsrode-Süd ist noch in der Entwicklung. „Das erste Baufeld ist verkauft, Baustart soll 2026 sein“, teilt Stadtsprecherin Janine Herrmann mit. Für weitere Baufelder seien bereits Hochbauwettbewerbe durchgeführt worden, die Stadt befindet sich in Vertragsverhandlungen zum Grundstücksverkauf.

Wenn es losgeht mit den Bauarbeiten, wird Sophia Britti in ihrer Eisdiele „Fiore“ einen Logenplatz haben, um Bagger und Kräne zu beobachten. Gerade hat sie den ersten Geburtstag ihres Lokals gefeiert – mit Tombola und Livemusik. „Es war ein Kampf“, sagt sie über die ersten zwölf Monate an einem Platz, der erst seit Kurzem sein Gesicht zeige. „Wir waren am Anfang der erste Anlaufpunkt für die Menschen, die Wohlfühloase.“ Ihr sei aber klar gewesen, als sie mit „Fiore“ von Laatzen nach Kronsrode zog: „Ohne langen Atem darf man so etwas nicht wagen.“

Mustafa Gözek hat das noch vor sich. „Der erste Ansturm ist vorbei, jetzt kommt der Alltag“, sagt er über sein Restaurant „Kröner“, das er vor zwei Wochen eröffnet hat. Der Name ist – natürlich – eine Fusion aus Kronsrode und Döner. Der 41-Jährige kommt aus der Gastrofamilie, die „Öz Urfa“ betreibt. „Für mich ist das hier ein großer Schritt, ein Neuanfang.“ Seit einem Jahr lebt er auch hier, kennt die Ecke. „Die Menschen fehlen noch. Aber ich habe die Vision, dass hier etwas aufblüht.“

So wichtig ist „Wolke 7″

Der Grundstein dafür ist gelegt, die Gewerbetreibenden treffen sich regelmäßig zum Austausch. „Wir bauen ein Netzwerk auf“, bestätigt Sophia Britti. Ein Name, der in dem Zusammenhang immer wieder fällt: Schwester Magdalena. „Sie ist so wichtig“, schwärmt Mustafa Gözek von der katholischen Ordensschwester Magdalena Winghofer, die eine Seelsorgerin in einem Neubaugebiet ohne eigene Kirche ist. „Wolke 7“ heißt ihr Projekt an der Rosalind-Franklin-Allee 80. Es gibt einen „Raum der Stille“, aber auch Inspiration, Anregung, Kinderkirche, Filmabende und Erzählcafé. „Ich versuche, nah an den Menschen zu sein, Kontakte zu knüpfen. Ich spüre die Belebung im Viertel, nehme aber auch Ängste wahr.“

Sich engagieren, mitmachen. Das ist Bernd (62) und Stephanie Borchert (55) wichtig in ihrer neuen Heimat. „Als wir eingezogen sind, gab es 35 Kräne, aber wenige Menschen“, erzählt das Paar. Und es gab Franziska Börgmann, die mit Bollerwagen und Kaffee durch die Straßen zog, weil die Räume für das Quartiersmanagement im Auftrag des Wohnungsunternehmens KSG noch im Bau waren. „Die Menschen fühlten sich ein bisschen verloren“, erinnert sich die Sozialarbeiterin, die damals das Eis bei vielen Anwohnerinnen und Anwohnern gebrochen hat.

Zusammen mit Kollegin Anna-Marie Eichhorn hat sie nun eine „offene Tür“ an der Ellerie 13. An diesen Nachmittag sitzen hier Kinder und malen und basteln, andere haben sie zu einer Aktion der Stadt geschickt. Denn der mehr als fünf Hektar große Bogen, der die drei Kronsrode-Abschnitte verbindet, soll als Park mit drei Spielplätzen gestaltet werden – die Ideen der Kinder im Beteiligungsprozess sind gefragt.

3200 Menschen leben aktuell in Kronsrode, 25 Ehrenamtliche haben die Quartiersmanagerinnen inzwischen um sich geschart. Die Borcherts sind an Bord, helfen mit bei Stadtspaziergängen und der Kaffeetafel. „Wenn man die Tür hinter sich zumacht, ist eine Wohnung in Kronsrode wie ein Bunker“, weiß der 62-Jährige. Er will etwas anderes. „Das ist unsere eigene Insel, ein kunterbunter Stadtteil. Wir wollen etwas aufbauen.“ Damit das Leben endgültig in Kronsrode einzieht.

Dieser Text ist zuerst am 30. August in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen. 

Text: Andrea Tratner, Bilder: Sr. Magdalena Winghofer CJ