Impuls zum Sonntag: Wer sind „die Armen“?

Im Evangelium nach Lukus, 4,16 ff heißt es:

"So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesája. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."

Mir scheint, Arm-Sein ist immer da, wo ein Mangel herrscht, der am Leben hindert. Dabei kann es sich um das schiere Überleben handeln, wenn Wasser, Nahrung oder Kleidung fehlen. Aber auch der Mangel an Bildungsmöglichkeiten oder der an Freiheit ist gravierend. Wer schwere Probleme mit der eigenen Gesundheit hat, ist arm dran, aber auch wem das Leben tiefgreifende Wunden oder Schädigungen zugefügt hat.

Der Begriff der Armen in der Bibel ist ähnlich vielschichtig. Armut ist ein Übel, das aus eigener Schuld, aber auch von Schicksalsschlägen oder von der Ausbeutung und Unterdrückung durch die Reichen und Mächtigen herkommt. Das verwendete Bildwort der "anawim" zeigt sie gleichermaßen bedürftig, gedrückt, weil ohne Einfluss, und geduldig und still, also nicht aufmüpfig und revolutionär. Der Arme der Bibel sieht seine Sache bei Gott, zu dem er schreit und bei dem er Gerechtigkeit und Erbarmen findet. Denn die Armen sind die Lieblinge Gottes.

Auch wenn die Armen wegen dieser Nähe zu Gott und der Empfangsbereitschaft für die Gaben Gottes seliggepriesen werden können, ist Armut doch kein erstrebenswerter oder gottgewollter Zustand. Ganz im Gegenteil. Den Armen im Namen Gottes frohe Nachricht zu bringen und das heißt, ein Ende ihrer Armut zu verkünden, ist Aufgabe der Propheten, in deren Reihe Jesus eintritt.

Gott will den Mangel der Armen nicht. Damit ist auch klar, dass es die zutiefst humane Aufgabe ist, den Mangel zu beseitigen. Das reicht von der Katastrophenhilfe bis zur Umverteilung des Besitzes und soll in der Hilfe zur Selbsthilfe auch die Sprachlosigkeit und Entmündigung der Armen überwinden.

Mary Wards Grabstein.

Kommen wir damit an ein Ende? "Arme habt ihr immer bei euch", ist der ebenso lakonische wie realistische Kommentar Jesu dazu. Das ist natürlich keine Erlaubnis, sich mit herrschender Ungerechtigkeit abzufinden. Es ist aber doch die Erkenntnis, dass wir Menschen Mängelwesen sind und bleiben – auch wenn die Armut noch so subtil und verdeckt sein mag.

"Die Armen lieben" ist das Mary Ward auf ihrem Grabstein zugeschriebene Lebensmotto. Das ist das Machbare, Konkrete, der Mut der vielen kleinen Schritte, das Nötige und Mögliche tun. "Die Armen lieben", das ruft nicht zu Gefühlsaufschwung auf, sondern zu Nähe, An-der-Seite-Sein, Teilnahme, Hilfe und Solidarität, um "mit ihnen zu leben, zu sterben und aufzuerstehen".

Sr. Ursula Dirmeier CJ

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