Zu Palmsonntag: Jesus hat vor mir gelitten

Mit diesem Sonntag treten wir in die Heilige Woche ein. Wir hören zum ersten Mal die Passion Jesu, hören von Verrat und Verleumdung, von Verleugnung, Macht und Ohnmacht, Urteilen, Gewalt und Leiden, Tränen, Liebe und Hingabe.

Sicherlich können wir hier alle mit eigenen Erfahrungen anknüpfen. Der Erfahrung, dass Menschen
uns hintergangen und verraten haben, dass wir Objekt ihres Spottes wurden, dass uns Gewalt angetan wurde – körperliche, verbale und psychische Gewalt. Wie bitter ist es, erleben zu müssen, dass uns Menschen, die uns nahestanden, verlassen, uns vielleicht sogar in einer Notsituation im Stich lassen.

Auch mitzubekommen, dass ich Opfer übler Nachrede geworden bin, dass andere falsche Behauptungen in die Welt setzen, um mich schlechtzumachen und kleinzuhalten. All das tut sehr weh und setzt uns zu. Es hinterlässt tiefe Wunden, wir können nicht so leicht darüber hinweggehen.

Was hilft im Umgang mit solchen Erfahrungen – seien sie frisch oder schon lange her und doch nicht verheilt? Sicherlich tut es gut zu wissen, dass wir mit diesen Erfahrungen nicht allein sind, dass Jesus Christus sie bereits vor uns gemacht hat. In aller Bitterkeit und Grausamkeit teilt er sie also mit uns.

Dies sollte uns dabei helfen, unseren Schmerz, unsere Enttäuschung und Wut ins Wort zu bringen, Jesus davon zu erzählen, ehrlich und ohne Beschönigungen.

So wirken wir auch der Gefahr entgegen, dass sich diese Erfahrungen wie ein Wurm tief in unsere
Seele eingraben. Auch sind wir eingeladen, unseren Blick darauf zu richten, wie Jesus mit dem Leiden, mit der puren Gewalt, dem Ausagieren von Aggressionen umgeht: Er bleibt klar in der Sache.

Was da geschieht, ist und bleibt Unrecht. Er erträgt das Unrecht aber auch, ohne zum Gegenschlag
auszuholen, ohne Rachegelüste. Für viele von uns mag es lange Zeit unvorstellbar sein zu beten:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Es ist schon viel, wenn wir wieder in der Lage sind, für diejenigen, die uns so sehr verletzt, alleingelassen und gedemütigt haben, zu beten, sie Gottes Fürsorge anzuvertrauen. Und doch gehört die Vergebung zum Kern christlichen Lebens.

Der Jubel und die Begeisterung beim Einzug in Jerusalem schlagen leicht ins Gegenteil um, in den Ruf: „Kreuzige ihn!“ Auch in unserem Leben gibt es Erfahrungen, dass aus Zuneigung Abneigung wird, Liebe in Hass umkippt und das Versprechen, immer für den anderen da zu sein, in die Ernüchterung des Alleinseins.

Wichtig ist es, dass wir uns in solchen Erfahrungen Jesus zuwenden und die Enttäuschung, Verbitterung und das Misstrauen nicht auf die Beziehung zu ihm übertragen, sondern ihn als Mensch und Heiland mit hineinnehmen. Er weiß aus Erfahrung, wovon wir sprechen.

Sr. Anna Schenck CJ

Wir danken der Katholischen Sonntagszeitung für die Möglichkeit, den Text zu übernehmen.