Armut - ein ehrlicher Blick in sechs Schritten

Was das Armutsgelübde heute bedeuten kann

Über Armut zu schreiben, wenn man alles hat, was man braucht, wenn man als Mitglied einer Ordensgemeinschaft abgesicherter lebt als viele andere, ist zugegebenermaßen fragwürdig. Trotzdem versuche ich zu beschreiben, welche Grundhaltungen hinter unserem Gelübde der Armut stehen und was sie für uns heute bedeuten können.

Wie alle unsere Gelübde ist auch das Armutsgelübde abgeleitet von der Haltung Jesu selbst, wie wir sie aus den Evangelien herauslesen können.

Für den hl. Ignatius von Loyola, dessen Spiritualität Mary Ward für ihre Gemeinschaft gewählt hat, bedeutet Nachfolge Jesu immer, dem „armen und demütigen Jesus“ nachzufolgen. Und er legt Wert darauf, dass die innere Haltung der Armut auch von konkreten materiellen Armutserfahrungen genährt wird.

Was heißt es nun für uns heute, eben diesem Jesus nachzufolgen?

Ich möchte in sechs Blickpunkten auf das schauen, was uns von Jesus überliefert ist und dies mit heutigen Erfahrungen verknüpfen. Ob diese Erfahrungen von „Armut“ dem Anspruch des Ignatius gerecht werden, dass die Armut konkret spürbar werden soll, weiß ich nicht, aber zumindest sind das Haltungen, die ich selbst als Herausforderungen wahrnehme und die zu üben ich mich bemühe.

1.             Kein Brot aus Steinen, sondern…

Im Matthäus- und Lukasevangelium wird uns berichtet, dass der Teufel am Ende von Jesu 40-tägiger Wüstenzeit versucht hat, Jesus zu Allmachtsträumen zu verführen. Die erste Versuchung bestand darin, dass Jesus, da er ja Gottes Sohn ist, Brot aus Steinen zaubern könnte, wenn er es denn wollte. Wie praktisch wäre das, nie mehr auf andere Menschen angewiesen zu sein und alles hervorzaubern zu können, was man sich nur wünscht. Jesus hat abgelehnt mit einem Zitat aus der Schrift: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot“. (Lk 4, 4) Und später, als die Menschen ihn nach der Brotvermehrung zum König machen wollen, damit sie ein für alle Mal ausgesorgt hätten, zieht sich Jesus auf den Berg zurück, wo er sich allein, nur mit seinem Gott, wieder neu sortieren muss.

angewiesen sein und bleiben

Der Sprung aus der Zeit Jesu direkt in unsere Zeit ist sicher gewagt und hinkt wahrscheinlich auch, aber er kann uns trotzdem aufmerksam machen.

Sind wir nicht in Deutschland und überhaupt im reichen Europa immer wieder versucht zu glauben, mit Geld sei alles möglich. Mit Geld können wir jederzeit alle Früchte der Erde genießen; können wir reisen, wohin wir wollen; können wir unseren Müll anderswohin schaffen lassen; haben wir unbegrenzten Zugang zu Energiequellen und Bodenschätzen… Der Boom der Kreuzfahrten lebt meines Erachtens von dem Traum, das Schlaraffenland gäbe es wirklich.

Die „Fridays for Future-Generation“ und noch mehr die Corona Pandemie haben uns die Augen geöffnet für die simple Tatsache, dass Ressourcen begrenzt sind und dass alles Geld der Welt nichts nützt, wenn sie „alle“ sind.

Wahrscheinlich hat es mehr mit Klugheit, als mit Armut zu tun, aber wir können und müssen, jede und jeder für sich, täglich Entscheidungen treffen, wie wir uns dem Angebot gegenüber verhalten, das uns zur Verfügung steht: Kaufen wir im März die Trauben aus Südafrika, weil wir Trauben mögen? Nehmen wir das eigene Auto, oder suchen wir nach umweltverträglicheren Verkehrsmitteln? Jagen wir den Schnäppchen nach, oder kaufen wir weniger oft die nachhaltigeren Kleidungsstücke? Und wenn ich auf die Schnäppchenjagd verzichte, wie geh ich dann mit dem Frust um, den ich vorher durch den Schnäppchenkauf schnell losgeworden bin? Wenn wir ehrlich sind, hat das alles mit den eigenen Gewohnheiten ziemlich viel zu tun. Armut kann heißen, sich einzuüben in eine neue Haltung: Nicht alles, was möglich ist, ist gut. Und wenn nicht alles möglich ist, ist es deshalb nicht schlecht, sondern normal. Armut kann heißen, diejenigen, die sich nichts leisten können, in Gedanken dabei zu haben; und damit relativiert sich unser Jammern auf dem oft sehr hohem Niveau. Armut kann auch heißen, Menschen nach etwas zu fragen, anstatt es mir selbst zu besorgen, oder das was ich habe zu teilen. Armut kann heißen, den geschwisterlichen Blick auf die Welt zu haben, den Papst Franziskus meint mit dem Wort des „Gemeinsamen Hauses“.

2.             Keine falschen Götter, sondern…

Der zweite Versuch des Teufels, Jesus auf seine Seite zu ziehen, ist das Versprechen, dass er Herrscher sein kann über alle Reiche der Welt, vorausgesetzt dass er sich bereit erklärt, den Teufel anzubeten.

Jesus kontert mit dem Wort: „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.“ (Lk 4, 8)

mir selber treu sein

Immer wieder kommen wir in Situationen, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir eines Vorteils wegen Zugeständnisse machen, die nicht dem entsprechen, was wir gut und richtig finden. Das kann Anerkennung sein, die wir verlieren, weil wir jemandem widersprechen. Das kann ein eifersüchtiger Arbeitskollege sein, den wir nicht reizen wollen und dessentwillen wir etwas nicht tun, was dran wäre. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass der „aufrechte Gang“ mit Erfahrungen bestraft wird, die sich zumindest vordergründig wie Armut anfühlen. Für mich hat es mit dem Armutsgelübde zu tun, wenn ich mir von vornherein bewusst bin, dass es diese Situationen geben kann und geben wird; dass daran nichts Verkehrtes ist, wenn ich meine Armut oder Ohnmacht zu spüren bekomme. Denn Armut und Ohnmacht gehören zum Menschen, weil wir eben Menschen sind und keine Götter.

3.             Kein Supermann – keine Traumfrau, sondern…

Noch einen dritten Versuch macht der Teufel, um Jesus doch noch herumzukriegen: Er fordert ihn auf von der Spitze des Tempels herunterzuspringen, denn, ihm als Gottes Sohn, kann so ein Sprung ja nichts anhaben. Da werden dann schon die Engel kommen, um ihn aufzufangen. Jesus macht sich immerhin noch die Mühe, dem Teufel auch hier ein Schriftwort entgegenzuhalten: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen. Im Musical 'Jesus Christ Superstar' fordert Herodes Jesus auf, „Walk across my swimming pool”. Jesus schweigt dazu.

eine / einer unter anderen

Ich denke, die meisten von uns kennen die Erfahrung, in unseren Stimmungen abhängig zu sein von dem, wie mir etwas gelingt oder nicht gelingt. Wenn es gelingt, geht es mir gut. Wenn es nicht gelingt, bin ich gereizt, verärgert. Oft ist damit auch Lob oder Kritik von anderen verbunden und nicht zuletzt harsche Abwertung meiner selbst. Armut leben heißt dagegen, aus der Beziehung zum Herrn mein Selbstwertgefühl zu beziehen und die Bilder von mir selbst loszulassen. Das schöne stolze Bild der guten Tage loszulassen, und ebenso das selbstmitleidige hässliche Bild der schweren Tage loszulassen. All das ist nicht wichtig, weil ich selbst nicht so wichtig bin, als dass ich mich lange damit aufhalten müsste. Und so, freier geworden, kann ich mich Gott zur Verfügung stellen, denn er ist ja die Kraft hinter allem, was ich tue.

4.             Kein Alleingang, sondern…

Jesus beginnt sein öffentliches Wirken damit, dass er sich Verbündete sucht. Dabei setzt er nicht auf eine Elite. Die ganz normalen Menschen genügen ihm. Und er beruft auch einen Judas, der sich später von ihm distanziert und ihn am Ende verrät.  Er kommuniziert mit seinen Jüngern auf Augenhöhe und macht sie zu seinesgleichen. „Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. (Joh 15,15) Jesus sieht seine Sendung nicht als ein Privileg, das ihm allein vorbehalten ist. Er hält es aus, dass seine Botschaft in die Hände wankelmütiger Menschen gerät. Als seine Jünger sich darüber aufregen, dass Fremde in seinem Namen Dämonen austreiben, bleibt Jesus ganz cool: „Hindert ihn nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch.“  (Lk 9, 50)

Von einer „Heidin“, die um die Heilung ihrer Tochter bittet, lässt er sich korrigieren. Sie hilft ihm zu erkennen, seine Sendung weiter, als nur für das Volk der Juden zu denken. (Mt 15, 21ff) 

mit anderen zusammen

Wie gehe ich um mit den Verantwortungsbereichen, in denen ich stehe? Wissen ist Macht. Mitgeteiltes Wissen ist geteilte Macht. Die Art zu kommunizieren sagt etwas aus über meine Haltung zur Armut. Ich kann mein Wissen für mich behalten und allein Entscheidungen treffen; andere vor vollendete Tatsachen stellen. Oder ich bin mir bewusst, dass meine Sicht eine von vielen ist und dass es möglicherweise Lösungen gibt, die plausibler sind, als meine. Ich gehe das Risiko ein, dass jemand anderes meine (glorreiche!) Idee als ihre eigene verkauft. Denn es kommt nicht darauf an, dass ich Recht habe oder mich durchsetze, sondern darauf, dass das Bessere gefunden wird, von wem auch immer.

Für das, was ich zu sagen habe, übernehme ich die Verantwortung und lasse dabei den anderen die Verantwortung für ihren jeweiligen Beitrag. Das heißt, ich mache meinen Einsatz nicht abhängig davon, ob andere ihren Beitrag leisten. Keine leichte Übung! Wie oft nehme ich das Versagen der anderen als Ausrede, selbst gar nicht erst zu handeln.
 

5.             Kein Anspruch auf Endgültigkeit, sondern…

Jesus erzählt gegen die Habgier das Gleichnis von dem Mann, der größere Scheunen bauen lässt, um seine reiche Ernte darin unterzubringen. Gott spricht zu ihm: „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern.“ (Lk 12, 20)

unterwegs bleiben

Wer Besitz hat, richtet sich ein. Er muss sichern, was er hat. Wie anders klingen dagegen die Worte Jesu, mit denen er für seine Sache wirbt: Es sind Worte wie wachsen, vergehen, loslassen, finden, suchen, umkehren. Das Reich Gottes ist nichts Statisches. Es ist lebendig, ist Beziehung. Es erschließt sich gerade im Paradox: „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ (Mt 10,39)  Nachfolge des armen Jesus heißt, sich auf dieses Beziehungsgeschehen einzulassen, nichts festzuhalten, keinen Zustand und auch kein Gut.

Im Orden lernen wir, dass Veränderungen dazu gehören. Der Wechsel der Kommunität und damit des Wohnortes ist sehr vertraut. Nichts festhalten bedeutet dann auch, nicht mit dem früheren vergleichen, sondern offen und aktiv Ausschau zu halten, was am neuen Ort möglich ist. Jede Veränderung ist eine Einübung, mir bewusst zu machen, dass alles, was ich gebrauche, geliehen und irgendwann zurückzugeben ist, sogar das Leben selbst.

Wer so immer wieder loslassen kann, dessen Vertrauen muss tiefer gründen, als in allem, was es hier auf Erden gibt. Den Alltag in diesem Wissen zu leben, macht frei. 

6.             Kein „Das steht mir zu“, sondern…

Als Jesus nach dem Mahl aufsteht, um seinen Freunden die Füße zu waschen, wird auch dem Letzten klar, wie Jesus seine Sendung von Gott her versteht: Als einen Dienst für die, die er liebt. Petrus hält diese Verkehrung der hierarchischen Ordnung kaum aus. Auch vorher schon hat Jesus seinen Jüngern immer wieder eingeschärft, dass Rang- und Hackordnungen im Reich Gottes nicht vorgesehen sind; etwas, das die Jünger nie wirklich verstanden haben. Jesus hatte alles andere als ein einfaches Leben. Aber er war ein Mensch, der einfach und dankbar geblieben ist, der das gemeinsame Mahl mit seinen Freunden genossen hat, der beziehungsfähig war, der die Frau öffentlich verteidigt hat, die ihm die Füße gesalbt hat.

dankbar sein

das allermeiste, von dem wir leben, ist uns geschenkt. Wir haben nichts dazu getan, dass wir leben dürfen. Wir haben nichts dazu getan, dass wir in einem Teil der Erde geboren sind, wo Überfluss herrscht, wo wir zur Schule gehen, einen Beruf lernen durften, Meinungsfreiheit haben… Wenn wir aus der Haltung leben „das steht mir zu“ ist damit nicht implizit ausgedrückt, dass es anderen nicht zusteht? Wie kommen wir auf die Idee, dass es solche Unterschiede geben dürfe? Wem etwas zusteht, der ist sehr schwer zu beschenken. Wem etwas zusteht, dem kann man kaum eine Freude machen. Alles ist ja dann selbstverständlich. Das Armutsgelübde bedeutet, aus dem Geschenk zu leben, dass ich bin, dass ich mit Jesus mitwirken darf, dass er mich mit seiner Gnade unterstützt.

Deshalb ist das Gelübde, wie alle Gelübde, in erster Linie ein Mittel, freier, dankbarer, lebendiger, beziehungsfähiger, beweglicher zu werden. Aber es muss, wie Ignatius sagt, auch konkret spürbar werden. Es kostet Arbeit, Überwindung, Verzicht, Umdenken und die Bereitschaft, mich als den kleinen Teil der ich bin, zur Verfügung zu stellen für diese Welt und für das Gute darin.

Sr. Sabine Adam CJ